Ich war wieder auf Arbeitssuche. Als ich in Siegen spazieren ging, fand ich mich wieder vor einem sehr großen Gebäude, dem Siegener Postamt. Und ich dachte: „Wenn so viele Leute dort arbeiten, kann ich das auch. Dann will ich doch da mal nachfragen. Die vielen Postautos fahren ja da jeden Tag rein und raus. Post muss ja verteilt werden, ganz egal ob es Sommer oder Winter ist, Schnee oder Hitze. Da will ich nach Arbeit fragen.“
So ging ich einfach in das Gebäude hinein und gelangte zum Personalbüro. Dort forderte mich eine Frau auf, eine Bewerbung zu schreiben. Sie schrieb mir eine Adresse auf. Dorthin sollte ich die Bewerbung schicken. Sie fragte mich auch nach meiner Aufenthaltserlaubnis. „Ja, habe ich,“ antwortete ich.
Mit meiner Frau zusammen schrieb ich die erste Bewerbung und den ersten Lebenslauf meines Lebens und schickte die mit der Post weg. Kaum waren drei Tage vergangen, erhielt ich einen Brief mit der Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Mittlerweile konnte ich gut Deutsch sprechen und war dabei auch recht selbstbewusst.
Ich machte mich also fertig und ging dort hin. Sie stellten mir einige Fragen, wie lange ich hier wohne und ob ich bereit wäre, einen juristischen Vertrag zu unterzeichnen. Sie erklärten mir, dass zwei Frauen in Schwangerschaftsurlaub sind und einige andere krank wären. Deshalb hätten sie weniger Leute. Ich könnte einen Monats-Vertrag bekommen. Der würde verlängert, wenn genug Arbeit da wäre. Ich dachte: „Ich habe sowieso zurzeit nichts zu tun und suche Arbeit. Dann sehen wir mal und machen unsere Erfahrungen bei der Post.“ Und ich sagte zu.
Die Leute, die draußen bei der Post arbeiten, hatten blau-gelbe Jacken an und sahen gut aus. Aber ich war vorsichtig. Wenn etwas von außen gut aussieht, weiß man nicht, was man darinnen findet. Ich dachte auch an ein berühmtes indisches Lied. Es handelt von einem Inder, der im Ausland lebte und sich so freute, wenn er einen Brief von seinen Eltern mit allen Nachrichten bekam. So hatte ich einen gewissen Bezug zur Post. Und ich dachte, wenn ich die Leute mit den Briefen und Karten überrasche, freut sich jeder. Dann sehe ich lächelnde Gesichter, weil der Postbote da ist. Und mit seiner Uniform sieht er ja auch gut aus. Aber dieses Äußere sollte sich von Innen als etwas ganz anderes herausstellen.
Am Montag nach dem Vorstellengespräch sollte ich pünktlich um 6 Uhr dort erscheinen. Ich wurde einer Frau vorgestellt, die mir meinen Zustellbezirk zeigen sollte und wie man dort die Post verteilt. Zunächst führte sie mich in einen riesigen Raum. Es standen dort an die 50 Tische, wo die Post sortiert werden sollte. Auf Wagen fuhren sie Holzkisten herum und stellten jeweils eine auf einen Tisch. Den Deckel dieser Kisten musste man öffnen. Darin lagen die Briefe gebündelt nach Postleitzahlen. Man musste auf die Adresse schauen, um sie zu ordnen. Die Rute war vorgegeben. Danach musste man die Briefe sortieren. Man fasste sie dann mit Gummibändern zusammen und legte sie so in den Taschenwagen. Es war ein Wagen mit zwei gelben Taschen übereinander, auf denen ein Postzeichen prangte. Dort fanden die Briefe in der richtigen Reihenfolge ihren Platz. In dieser Folge solle ich die Häuser ablaufen und die Post in die Briefkästen zustellen. Die Frau gab mir einen Stuhl für die Arbeit und setzte sich auch selber mit einem anderen Stuhl dazu. Und sie zeigte mir alle Arbeitsschritte. Ich begann nach ihrer Anweisung.
Mir fiel auf, dass hinten in der Halle Gruppen von Leuten standen. Auch die Frau, die mich anleitete, hatte sich einer Gruppe angeschlossen. Mir hatte keiner etwas gesagt. Aber sie standen da mit Kaffee in der Hand und frühstückten. Als sie fertig waren, drückte mir die Frau noch mehr Briefe zum Sortieren in die Hand. Ich war noch dabei, als sie schon alle weg waren.
Eine Woche lief ich dann mit der Frau diese Route. In der Folgewoche sagten sie mir, dass noch einer krank geworden sei. Ich sollte mit jemand anderem arbeiten und dessen Route kennen lernen. Am Montag stellten sie mir deshalb einen etwa 60-jährigen Mann vor. Aber laufen konnte er wie ein 20-Jähriger. Er hieß Erik und ich kann mich gut an ihn erinnern. Er lief wie ein Pferd. Ich lief immer hinter ihm her, weil er so schnell war. Er erzählte mir, dass er vorher bei der Bundeswehr war. Als ich langsam wurde, schaute er sich um und sagte: „Junger Mann, stramm laufen!“ Manchmal dachte ich, dass ich hier bei der Bundeswehr arbeite. Ich stellte mir vor, dass ich auf dem Rücken einen großen Rucksack trage voller Munition und einer treibt mich an, stramm zu laufen. Das war meine zweite Route, die ich gelernt hatte. Zehn Tage wurde ich von ihm trainiert.
Nach diesen zehn Tagen musste ich alleine arbeiten. Sie holten mich in das Büro. Ich bekam auch eine gelbblaue Jacke mit dem Postzeichen, die ich tragen sollte. Ich war sehr stolz, diese Uniform tragen zu dürfen. Inder tragen gerne Uniform. Dann meinen sie, sie wären etwas Besonderes. Ich war im Anfang genauso.
Die Post in Deutschland war ehemals staatlich. Als ich anfing, war die Post gerade privatisiert worden und die Konditionen waren wie in einer Privatfirma. Die Leute, die schon lange bei der Post arbeiteten, beschwerten sich, dass früher alles besser war als jetzt. Den Älteren bot die Post Abfindungen und eine flexible Rente an, um sie los zu werden, damit sie junge Leute rekrutieren konnten.
Die zehn Tage, die ich mit Erik gearbeitet hatte, waren sehr sehr anstrengend. Aber es war auch sehr herzlich. Den ganzen Tag erzählte er mir etwas zu den Häusern und zu den Menschen, die dort wohnten. Und er zeigte mir, wo die Postboxen sind. So konnte ich mir Gedanken machen, welche Persönlichkeiten sich hinter dieser Mauer verbergen und was für eine Post sie bekommen.
Das war sehr interessant und ich will euch in unsere Unterhaltungen einige Einblicke geben.
Erik erzählte mir von seinen zehn Jahren bei der Bundeswehr und wie er danach bei der Post angefangen hatte. Und er sagte: „Früher war es viel schöner, bei der Post zu arbeiten. Jetzt ist alles privatisiert. Wir haben mehr Straßen bekommen, mehr Stress und das gleiche Geld.“ Deshalb war er froh, dass er 60 ist und demnächst in Rente gehen kann. Die jungen Leute, die jetzt bei der Post anfangen, taten ihm leid – zumal sie jetzt auch weniger Geld verdienten. Auch die Jobgarantie gab es bei der privaten Post nicht mehr. Früher war es schwierig, Leute zu entlassen. Aber jetzt werden sie die Leute los, wenn sie das wollen.
Und er betonte: „Ich gehe in Pension, nicht in Rente.“ Ich wusste gar nicht, was der Unterschied ist. Deshalb erklärte er mir ausführlich, was Pension und was Rente ist. Auch das war mir alles neu.
Erik eröffnete mir seine Pläne. Wenn er in Pension ging, wollte er 6 Monate lang gar nichts machen. Und dann wollte er alle Reparaturen am Haus, die sich aufgestaut hatten, erledigen. Und dann wollte er einen Wohnwagen kaufen. Das war immer sein Traum. Seine Frau ging auch in Frührente und dann wollten sie durch ganz Europa mit dem Wohnwagen fahren. Er hatte sich schon nach Stellplätzen erkundigt und Hefte und Bücher darüber studiert. Auch Erfahrung hatte er schon damit in anderen Ländern gesammelt. Und jetzt war er in einen Verein eingetreten, in dem mehrere mit ihren Wohnwagen durch Europa tourten und miteinander Spaß hatten.
Erik hatte zwei Kinder. Der Sohn wohnte in Bonn und die Tochter in Berlin. Er hatte auch mehrere Enkelkinder und freute sich, wenn seine Enkel zu ihm nach Hause kommen.
Wenn wir eine weitere Strecke laufen mussten, nutzte er diese Gelegenheit, mir das alles zu erzählen. Als wir an eine neue Straße kamen, erzählte er mir: „Hier wohnt eine alleinstehende Frau. Da wohnt eine Familie mit drei Kindern. Den da sehe ich schon seit zwanzig Jahren. Er bekommt immer gelb-braune Briefe. Aber die letzten 6 Monate war er nicht da. Es hatte mich schon gewundert, dass er nicht mehr solche Briefe bekam. Eine andere Nachbarin flüsterte mir zu, dass er im Gefängnis wäre. Jetzt, wo er raus gekommen ist, bekommt er wohl nicht mehr so viele von diesen Briefen, glaubte ich. Aber das hat nicht lange gedauert.“ Und er schaute mich an und lachte. „Jetzt haben wieder diese gelb-braunen Briefe angefangen zu kommen. Es dauert nicht mehr lange, bis er wieder im Gefängnis sitzt.“
Und dann begann er sich aufzuregen. „Dieser Mann ist immer zuhause. Ich weiß nicht, wie man immer zuhause sitzen kann. Wenn ich Urlaub habe, sind die ersten zwei Tage Urlaub schön. Aber, wenn ich dann nichts zu tun habe, werde ich wahnsinnig und drehe durch.“ Nachdem er sich beruhigt hatte, meinte er: „Ich kann die Leute nicht ändern. Jeder ist für sein Leben selbst verantwortlich, jungen Mann! Jeder sollte machen, was er für richtig hält.“
„30 Jahre laufe ich schon fast in diesem Bezirk. Ich kenne jeden und jede Familie, die hier wohnen. Ich weiß, wenn sich Frau und Mann streiten. Ich weiß, welche Frau alleine wohnt. Ich weiß, welcher Mann ausgezogen ist oder wer wo arbeitet. Ich weiß, wo der Mann mehrere Tage auswärts arbeitet und ab und zu ein Freund dort hin kommt. Ich weiß auch, wer Soldat ist. Und wenn der einen Auslandseinsatz hat, kommt ein Liebhaber vorbei.“ Wenn Erik so etwas erzählte, lachte er immer ganz herzlich dabei.
Und dann sagte er: „Junger Mann, was ich dir hier alles erzähle, das darf ich eigentlich gar nicht weitersagen. Das sind Betriebsgeheimnisse.“ Und wieder lachte er dabei. Es kam mir so vor als wüsste er Details, die selbst den Nachbarn unbekannt waren.
Manche Häuser hatten mehrere Etagen. Wenn von man eine Unterschrift für den Briefempfang braucht, muss man auch nach oben laufen. Es gibt auch eine Karte, die man hinterlassen kann. Dann müssen die Leute ihren Brief am Postamt abholen. „Aber,“ sagte er mir, „es gibt auch ältere Leute für die das beschwerlich ist. Da sollst du auf jeden Fall hoch laufen.“
Einmal hatten wir ein Einschreiben und liefen auf die 2. Etage und er bedeutete mir: „Hier sind acht Eigentumswohnungen. Ganz oben, wo die roten Gardinen hängen, ist nachts auch eine rote Beleuchtung an. Merk dir das mal gut, mein Freund!“ Dazu lachte er komisch. Und ich dachte: „Warum lacht der jetzt?“ „Schau dir mal die roten Gardinen an. Da sind Frauen.“ Ich fragte: „Welche Frauen? Frauen wohnen überall.“ Und er lachte wieder: „Oh, Singh, du verstehst das überhaupt nicht. Schau dir mal diese roten Gardinen an. Und was ist da für ein Zeichen an dem Fenster daneben?“ Da fiel es mir auf. Es hing dort ein Herz-Zeichen. Und er sagte: „Schau dir mal das rote Herz an.“ Und er lachte laut dabei. „Wenn du eine Scheidung von deiner Frau haben willst, dann gehst du da hin und erzählst das deiner Frau. Dann passiert das ganz schnell. Du musst nur 50 Mark in der Tasche haben. Dann klappt alles.“ Aha, jetzt verstand ich, was er meinte. Da oben war ein Puff.
Er berichtete, dass die von dort nicht herunter kommen, wenn es ein Einschreiben gibt. Deshalb ist er mehrmals dort hoch gegangen. Dort laufen immer mehrere Frauen leicht bekleidet herum. Sie haben ihm auch schon angeboten, dass er mit ihnen Kaffee trinken sollte. Aber das hatte er noch nie gemacht. Dann sagte er mir ganz leise: „Da sind einige dunkelhaarige schöne Frauen – richtig schöne Frauen. Eine Dunkelhaarige ist mit Negligee herumgelaufen. Die hat Modelmaße, mein Freund.“ Und dann grinste er.
Und er fuhr fort: „Als ich nach Hause kam, habe ich meiner Frau erzählt, dass ich ein Einschreiben dort hin gebracht habe. Und ich habe ihr von dieser zauberhaft hübschen Frau mit den langen schwarzen Haaren erzählt. – Meine Frau hat mich sauer angeschaut! Die kann mit Blicken töten, mein Freund. So hat sie mich angesehen und sie sagte: ‚Erik, das eine merke dir. Wenn ich das mitbekomme, dass du in dieser Wohnung warst und mit einer Frau etwas angefangen hast, dann denke dran: Ich mach Schnipp Schnapp. Und dann lasse ich mich scheiden.“ Als er mir das erzählte, bekam er ein rotes Gesicht. Und dann konnte er wieder lachen. „Merk dir das mal. In Deutschland gibt es ein Sprichwort. ‚Appetit kann man sich holen, aber gegessen wird zu Hause‘, mein Freund!“ Dieses Sprichwort verstand ich nicht. Erst, als ich es einige Jahre später wieder hörte, wusste ich, was gemeint ist.
Wir kamen an einem Haus vorbei, das einer türkischen Familie gehörte. Erik sagte: „Das ist ein Türkenhaus. Sie bewohnen das ganze große Haus. Der Mann hat zwei Frauen und sechs Kinder. Mich geht das nichts an. Wenn ihm das gefällt und die andere Frau sich das gefallen lässt, dann sollen die machen, was sie wollen.“ Und er fügte hinzu: „Jaaa, manchmal denke ich, zwei Frauen zu haben ist gar nicht verkehrt.“ Schon wieder grinste er so. „Eine macht sauber. Die Zweite kocht. Eine macht die Wäsche und bügelt alles. Eine macht mein Bett. Die andere bringt die Schuhe herbei. Und es gibt Abwechslung im Bett.“ Dann meinte er: „Nee, das lassen wir lieber. Schön ist das vielleicht in den Filmen. Aber für mich ist das nichts. Eine reicht mir. Die macht mir schon genug Stress. Wenn zwei da sind, ohh ohh ohh, nee Singh, das tue ich mir nicht an. Eine reicht mir schon.“ Und weiter: „Meine Frau kann wirklich Stress machen. Meine Tochter sagte mir schon: ‚Papa, du bist ein Weichei. Du kannst dich nicht durchsetzten. Deswegen, nee, das mit den zwei Frauen lassen wir mal. Das ist nichts für mich.“
Mittlerweile war ich schon so weit, dass ich mich an all die Geschichten erinnerte, wenn ich die Briefe dieser Leute in meinen Händen hielt.
Ein Haus fiel mir besonders auf. Es war groß und ein Mann stand immer davor, wenn wir dort hin kamen. Erik grüßte ihn immer und wenn er einen Brief hatte, warf er den in den Briefkasten. Oder er sagte von Weitem, dass er keine Post habe. Dann ging dieser Mann immer in sein Haus. Mir fiel auf, dass er mich immer mit einem merkwürdigen Gesicht anschaute. Ich betrachtete ihn genau und konnte in seinem Gesicht überhaupt nicht lesen, was in ihm vorging. Er hatte ein Gesicht wie ein Stein, sodass man überhaupt nicht sehen konnte, ob er glücklich ist oder nicht. Ich habe das öfters in Deutschland beobachtet. Es gibt Leute mit einem ausdruckslosen Gesicht. Das sind die Leute, die die ganze Zeit in einer Kneipe verbringen. Die sind immer pünktlich, wenn die Kneipe geöffnet wird und dann sind sie da, bis die Kneipe wieder geschlossen wird. Wenn die ein gewisses Alter erreicht haben, wird die Haut dünner, sie haben ein rotes Gesicht und ihre Nase ist blau. So ist es mir aufgefallen. Und dieser Mann, der mich vor diesem Haus immer so komisch angeschaut hat, hatte genau so ein Gesicht. Roter Kopf und blaue Nase.
Als ich mit Erik bei ihm vorbei kam, stellte Erik mich auch vor. „Hier, in dieser Woche läuft der Herr Singh mit mir. Und danach bin ich lange in Urlaub. Er vertritt mich in meinem Urlaub.“ Ich sagte ihm „Guten Morgen“ und nickte mit meinem Kopf. Aber er gab mir überhaupt keine Antwort. Ich dachte: „Alle Menschen sind sowieso von einem Gott. Da ist es doch egal, wenn einer mal keine Antwort gibt. Das wird sich schon mit der Zeit ändern.“
Die Geschichten, die Erik mir erzählt hatten, waren eine sehr gute Sache. So konnte ich mir in den zehn Tagen Training die Namen der Menschen in den Straßen einprägen. In jeder Straße wusste ich ungefähr, wie die Leute heißen und wer sie waren. Das hat mir sehr geholfen. Und es war viel einfacher als zu der Zeit, wo ich mit der Frau die Tour gelaufen war.
So kam leider der letzte Tag, an dem ich mit Erik herumgelaufen bin. Am Tisch, wo der Erik immer gearbeitet hatte, gab er mir die Hand und wünschte mir viel Glück. Und noch einmal zeigte er mir, wie ich die Briefe sortieren sollte und zeigte mir alles andere nochmals. Dann gab er mir nochmals die Hand und verabschiedete sich von mir. Danach nahm er seine Tasche und machte sich auf den Weg nach Hause. An den Nachbartischen sagte er seinen Kollegen noch: „Wenn der junge Mann Hilfe braucht, dann helft dem bitte.“
Mich machte das alles nachdenklich und schweren Herzens lief ich zur Bushaltestelle und nahm den Bus nach Hause. Ich dachte: „Morgen muss du allein die ganzen Briefe verteilen und es ist keiner da, der dir hilft oder den du fragen kannst.“ Und ich nahm mir vor: „Morgen komme ich vielleicht eine Stunde früher und fange schon mal an, zu sortieren. Dann werde ich pünktlich fertig damit und komme früh genug raus, um die Briefe zu tragen.
Ich war sehr gespannt, wie es werden sollte. Aber die Zeit bis zum nächsten Morgen ging schnell herum. Meine Tochter war damals drei Jahre alt. Sie war sehr lebhaft und ich spielte gerne mit ihr und hörte ihr zu, was sie an dem Tag erlebt hatte. So gingen die Stunden herum und ich konnte gut schlafen.
Am nächsten Morgen kam ich tatsächlich eine Stunde früher am Postamt an. Zu dieser Zeit waren nur sehr wenige Leute dort. Aber ich begann, die Briefe, die dort schon lagen, zu sortieren. Nach und nach fingen auch die anderen an, dort zu arbeiten. Eine Frau, die vorher mit mir in einer anderen Firma gearbeitet hatte, grüßte mich.
Meine Aufmerksamkeit erregte aber eine kleine dicke Frau. Sie hatte wohl etwas viel auf den Hüften. Sie war sehr freundlich und versuchte immer mit mir zu reden. Sie war auch die einzige, die sehr freundlich war. Als sie mich an meinem Tisch sitzen sah, kam sie sehr nah an mich heran, als wenn sie mich bedrängen wollte. Ich rückte daraufhin etwas nach hinten. Auf einmal stellte sie sich hinter meinen Stuhl und fing an, mich auf den Schultern zu massieren. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Der Mann am Nachbartisch schaute sich das ganze Spiel eine Weile an. Dann sagte er: „Anja, lass den jungen Mann in Ruhe. Mach deine Arbeit. Geh weg.“ Ehe sie sich entfernte, flüsterte sie mir kurz ins Ohr: „Wenn du irgendeine Hilfe brauchst, sag mir Bescheid.“ Und sie lächelte mich dabei an. Ich musste Luft holen und dachte: „Gott sei Dank, dass die weg ist. Ich strenge mich an, die Briefe zu sortieren, und die nervt mich auch noch.“
Nach einiger Zeit hatten einige andere ihre Briefe schon sortiert und waren mit ihren Taschen unterwegs. Ich wurde immer nervöser, als ein Postzusteller nach dem anderen an mir vorbei lief. Am Ende hatte ich es aber auch geschafft. Ganz schnell hing ich die Tasche an meine Schulter und nahm den Wagen mit zur Bushaltestelle. Endlich war ich auf Tour.
In meinem Zustellbezirk war ich eine Stunde später als sonst, als ich mit Erik raus gegangen war. Ich versuchte, schnell zu laufen. Und, obwohl es draußen kalt war, begann ich zu schwitzen. Die Briefe warf ich in die Postkästen, damit ich schnell weiter kam.
Schließlich kam ich an dem großen Haus an, wo mich Erik dem älteren Mann mit dem roten Gesicht vorgestellt hatte. Die ganze Zeit hatte er mich schon mit seinem scharfen Blick beobachtet. Als ich näher kam, legte es seine Hände auf die Hüften und war sauer. „Junger Mann, hast du nicht auf die Uhr geschaut?“ Dann klopfte er auf die Uhr an seinem Arm und sagte ganz laut: „Eineinhalb Stunden zu spät!“ Und dann flüsterte er noch ziemlich laut: „Das fehlt mir noch in meinem Leben, dass ein schwarzer Postbote kommt.“ Und dann brummte er noch etwas, was ich nicht verstand. Ich war wie gelähmt und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Ich war sprachlos und machte mich ganz schnell vom Acker und lief zum nächsten Haus.
Ich war sowieso spät dran und es kam mir so vor, als nähmen die Briefe überhaupt kein Ende. Ich versuchte noch schneller zu laufen, damit ich irgendwann das Austragen beenden könnte. Schließlich hatte ich es geschafft. Als ich dann beim Postamt wieder ankam, waren alle anderen Postboten schon weg. Da war es schon 4 Uhr am Nachmittag.
Aber die Anja sah ich noch. Sie lief herum und redet mit den Leuten, die jetzt an den Tischen saßen und redete mit ihnen. Als sie mich bemerkte, kam sie sofort herüber. „Warum ist es bei dir so spät geworden? Ich habe auf dich gewartet.“ Und sie vertraute mir an, dass die Route, die ich verteilte, größer war als die anderen. Normalerweise machte das der Erik. Aber außer ihm wollte dort niemand arbeiten. Und jetzt haben sie vor kurzem die Route noch vergrößert. Vielleicht hätte der Erik mir das ja erzählt. „Aber du wirst das schon lernen. Wenn du ein paar Tage hier gearbeitet hast, dann wirst du schneller.“
Dann fragte sie mich auch, wo ich wohnte. „Ich wohne in Weidenau,“ antwortete ich. Dann fragte sie mich, ob ich alleine wohne oder eine Familie habe. Und sie fragte mich immer mehr. Auf manche Fragen gab ich überhaupt keine Antwort. Ich wollte schnell meine Sachen aufräumen. Ich war sowieso schon spät. Als ich gehen wollte, kam sie ganz nahe an mein Ohr und flüsterte „Tschüss“. Ich war froh, dass ich entkommen konnte, und, als ich zu Hause eintraf, war es schon 5 Uhr.
Am nächsten Tag hatte ich schon Routine beim Sortieren der Briefe und merkte, dass ich immer besser wurde. Kaum war ich aus dem Postamt heraus, begann ich schon zu überlegen: „Hoffentlich ist dieser alte böse Mann heute nicht da.“ So kam es aber nicht. Schon von weitem hielt er nach mir Ausschau und klopfte auf die Uhr und hatte etwas zu meckern. Jeden und jeden Tag war es so, dass er ständig etwas zu nörgeln hatte. Mittlerweile hatte ich mich so verbessert, dass ich nur noch 20 Minuten zu spät war, als ich an seinem Haus vorbei kam. Trotzdem hatte er etwas zu nörgeln und zu schimpfen. Ich war es leid und dachte: „Heute unternimmst du etwas gegen ihn. Das geht so nicht weiter.“
Als ich im Amt ankam, erzählte ich meinem Nachbarn davon und fragte ihn, wo ich mich beschweren könnte. Er schickte mich zu einem Büro. Da saß eine Dame und ich berichtete ihr: „Seid zwei Wochen verteile ich hier die Post und der hat immer etwas zu schimpfen. Er tituliert mich als schwarzen Postboten und geht mich an, wenn ich ihm einen Brief bringe.“ Die Frau wurde richtig ärgerlich. Sie wurde richtig rot im Gesicht und wollte mit ihm telefonieren.
Ich ging wieder an meinen Platz und machte meine Arbeit. Da kam die Frau zu mir. Sie war immer noch zornig und hatte so den Mann angerufen. „So geht das nicht weiter,“ hatte sie ihm gesagt. „Wenn noch einmal eine Beschwerde über Sie eingeht, müssen Sie ihre Post selber abholen.“ Und sie stellte klar: „Wenn der noch einmal so etwas sagt, kommen Sie bitte sofort in mein Büro und sagen sie mir, was der zu Ihnen gesagt hat. Dann gehen wir einen Schritt weiter und machen eine Anzeige gegen ihn.“
Ich dachte: „Es gibt ja immer bekloppte Leute. Wenn der so ist, muss ich mich nicht unbedingt über ihn beschweren.“ Dann dachte ich: „Es kann aber auch sein, dass ich nicht der einzige bin, bei dem er sich so benimmt. Es kann sein, dass er immer wieder farbige Menschen beschimpft. Einer muss doch wenigstens den Mut haben, gegen ihn anzugehen. Irgendwann muss er lernen, dass jeder Mensch gleich ist. Sonst ist bald jemand anderes sein Opfer.“ Deshalb war ich dann doch froh, mich über ihn beschwert zu haben.
Am nächsten Tag näherte ich mich seiner Straße und bereitete mich schon vor: „Aha, jetzt kommt der alte Mann wieder. Ist er da oder nicht da?“ Es schien zu sein wie immer. Er stand auf dem Balkon und beobachtete mich. Ich befürchtete, dass er noch mehr Ärger macht, weil ich mich über ihn beschwert hatte. Aber ich entschloss mich: „Ich muss sowieso meine Arbeit machen. Ich muss bei ihm vorbei gehen.“ Komischerweise ging er aber einfach weg, nachdem er mich genau gemustert hatte. Heute hatte ich auch einen Brief für ihn. Ich lief ganz leise und langsam zu seinem Briefkasten, damit er es nicht bemerkt. Erst schaute ich nach oben, ob er da wäre. Dann öffnete ich den Deckel des Briefkastens ganz langsam, legte den Brief ein und schloss den Deckel wieder ganz leise. Kaum hatte ich aber meinen Rücken gedreht, da hörte ich das Geräusch, das ich schon aus Deutschland kannte. Wenn einer sich geärgert hatte, aber nichts sagen wollte, machte er „RRRRR“. So klang es mir nach. Ich drehte meinen Kopf und schaute zurück. Aber es war keiner mehr da.
Auf meinem weiteren Weg dachte ich: „Ich will nicht denken, dass so ein Mensch plötzlich Verstand bekommt und anders zu denken anfängt. Er denkt eingleisig wie ein Fahrer auf einer Autobahn. Denen kann man nichts beibringen. Die schlechten Eigenschaften kann man ändern. Aber die Grundgedanken dieser Menschen kann man nicht ändern.“ „Ein Mensch kann nichts dafür, wenn er gelb, schwarz oder sonst wie aussieht. Gott hat alle Menschen geschaffen und sie können es sich nicht aussuchen. Ich kann nicht zu Gott sagen: ‚Ich will aber weiß werden.‘ Welche Hautfarbe man hat und wo man geboren wird, ist einfach in der Hand Gottes.“
Oh, normalerweise wollte ich euch eine Postgeschichte erzählen – ein lustiges und erfolgreiches Erlebnis. Wenn ich aber von anderen Leute die Hasskommentare höre oder sehe, wie sie ein Gesicht voller Hass anschauen, weil es von einem anderen Land kommt oder zu einer anderen Religion gehört, dann ist das für mich unverständlich. Sie machen nicht nur das Leben der Leute schwer, die sie mit Hass anschauen oder über die sie Hasskommentare machen. Sie machen ihr eigenes Leben genauso schwer. Das ist doch überhaupt nicht notwendig, das Leben zusätzlich schwer zu machen. Dann denke ich auch ein indisches Sprichwort. Das heißt: „Leben und leben lassen.“ Mittlerweile habe ich aber aus anderen Kulturen ähnliche Sprichwörter gehört. In Deutschland sagt man auch: „Leben und leben lassen.“
Ich habe mal ein Buch eines englischen Autors gelesen. Er schrieb über christliche Kriegsführung. Und ich dachte: „Dieses Land ist ein christliches Land.“ Hier sah ich Leute, die des Sonntags mit Anzügen und Krawatten schön gekleidet zur Kirche liefen. Und manchmal hatte ich das Gefühl, dass sie je näher sie zur Kirche gehen, sie sich desto weiter von Gott entfernen. In diesem Buch nannte sie der Autor „the people near to church away from God“. So dachte ich über diesen Mann nach und hing meinen Gedanken nach.
Und plötzlich bemerkte ich: „Au Mist, ich habe meine letzte Straße vergessen und da nicht die Post verteilt.“ Ich wollte heute schnell sein. Aber es waren nur acht Häuser. Es waren aber zwei Einschreiben dabei. Deshalb wollte ich in den sauren Apfel beißen und kehrte wieder schnell um.