Anwar und ich waren ständig auf der Suche nach Arbeit. Wenn wir einen Pakistaner oder Inder trafen, war die erste Frage immer: „Gehst du arbeiten? Wo arbeitest du? Hast du die Möglichkeit, Arbeit zu finden?“ Das war immer das Gesprächsthema Nummer 1.
Wir trafen einen Pakistaner, der Ahmad hieß. Er gehörte zur Ahmadia-Bewegung. Das ist eine Glaubensgruppe, die sich von der islamischen Gesellschaft getrennt hat. Sie sind Muslime, unterscheiden sich aber etwas von der muslimischen Mehrheit. Und ihn fragten wir auch, wo er arbeitete.
Ahmad erzählte, dass er in Betzdorf bei einer Firma tätig war. Dort arbeiteten auch viele Ausländer. Und sie hätten gerade viel zu tun. Die Firma produzierte Autoteile. Dort könnten wir ruhig fragen. Dazu schrieb er uns die Adresse auf.
Ich freute mich. Am nächsten Tag nahm ich den Zug mit Anwar und machte mich auf den Weg. Als wir ankamen, war unser erster Eindruck, dass diese Firma sehr sauber und ordentlich ist. Bei der Rezeption saß eine Frau und wir fragten sie nach Arbeit. Sie entgegnete: „Ja, das stimmt. Wir suchen Leute. Aber erst einmal müsst ihr ein Formular ausfüllen.“ Wir taten das und gaben das ausgefüllte Formular ab. Dann sagte sie: „Wartet, ich rufe den Meister und der wird euch abholen. Ihr müsst euch erst einmal ansehen, wie diese Firma arbeitet.“
Noch heute sehe ich es vor mir, wie der Mann herauskam. Er gab uns die Hand und stellte sich vor. „Ich bin der Meister und ich heiße Hirsch.“ Ich erinnere mich gut an ihn, wie er uns mit seinem blauen Anzug mitnahm.
Viele Leute arbeiteten in dieser Firma. Manche waren beim Schweißen. Es liefen Maschinen. Manche fuhren mit einem Hubwagen die Teile hin und her. Trotzdem war der Boden sauber und alles ordentlich. Alles lag an seiner Stelle. Sie arbeiteten für deutsche Autofirmen. Jetzt hatten sie aber einen zusätzlichen Auftrag von Renault bekommen, Türen zu fertigen. „Wir bauen jetzt eine zusätzliche Halle und brauchen jede Menge Leute,“ sagte der Meister.
„Das ist doch kein Problem,“ sagten wir. „Auch, wenn die Arbeit schwer ist, sind wir gerne bereit, das zu machen. So führte er uns immer weiter und brachte uns schließlich wieder zur Eingangstür und verabschiedete sich von uns.
Ich besprach unsere Erfahrungen mit Anwar: „So, wie der Meister sich verhalten hat, sieht es so aus, dass wir einen Job bekommen werden.“ Und wir machten uns auf zum Bahnhof, stiegen in den Zug und fuhren nach Hause.
Unsere Kollegen warteten schon auf uns und fragten, wo wir gewesen seien. Wir erzählten ihnen, dass wir in dieser Firma waren, ein Formular ausgefüllt haben und dass es so aussieht, als wenn wir dort Arbeit finden können. Vielleicht im nächsten Monat oder in kurzer Zeit könnte es so weit sein. Die anderen fragten mich direkt, wo das war und meinten: „Es wäre doch gut, wenn du mitkommen könntest.“ Ich erklärte mich bereit, sie dorthin zu begleiten
Am nächsten Tag standen drei vor mir und fragten: „Wann machst du dich fertig? Wir sind doch bereit, um nach Betzdorf zu fahren. Wir wollen auch das Formular ausfüllen.“ Und so ging ich mit ihnen. – An der Information saß wieder die selbe Frau. Ich sagte ihr: „Herr Hirsch meinte: ‚Wir brauchen viele Leute.‘ Deshalb habe ich noch ein paar Kollegen mitgebracht.“
Sie war sehr freundlich. Dieses Mal rief sie den Meister aber nicht an. Sie gab uns das Formular und ließ es uns ausfüllen. Sogar unsere Ausweise kopierte sie dieses Mal. Und sie ergänzte: „Wir melden uns, wenn der Bedarf da ist.“
Genau so ging es am nächsten Tag weiter. Zwei Leute haben das mitbekommen und wollten jetzt auch dorthin. Sie hatten allerdings kein Geld und baten mich, ihnen das Geld für das Zugticket vorzustrecken. Wenn sie jetzt so Arbeit finden, wollten sie mir das Ticket-Geld zurückgeben. Ich meinte: „Ja, okay. Das sieht doch gut aus und ich erhalte irgendwann mein Geld zurück.“ Über das Geld machte ich mir nicht so viele Gedanken. Ich wollte ihnen vor allen Dingen helfen, damit sie auch Arbeit bekommen.
Diese Entwicklung beruhigte mich. Zugleich war ich recht unsicher, ob ich in dieser Firma zurecht kommen würde. Sie sah so ordentlich und gut organisiert aus. Ich müsste einfach zusehen, wie ich das schaffe.
Durch eine Eingebung machte ich mein Portemonnaie auf und fand eine Visitenkarte. Ich hatte sie bekommen, als ich auf einer Baustelle nach Arbeit gefragt hatte. Da stand der Name Franz Bruti. Seine Firma war in Freudenberg.
Nach langer Überlegung nahm ich meinen Mut zusammen und suchte diese Firma im Telefonbuch. Ich rief dort an und an der anderen Seite war eine Frau. Ich erklärte ihr: „Wir sind zu zweit. Mein Kollege und ich suchen eine Arbeit.“ Sie konnte ganz gut Englisch und buchstabierte für mich eine Adresse auf Englisch. Morgen zwischen 9 und 10 Uhr sollten wir bei ihnen in Freudenberg vorbei kommen. Ich berichtete es Anwar und er war einverstanden.
Wir packten das Formular für die Arbeitsgenehmigung vom Arbeitsamt und unseren Ausweis ein. Damit fuhren wir nach Freudenberg. Dort fanden wir das Büro der Baufirma. Es war als Pavillon vor ein Privathaus gebaut. Die Frau dort war sehr nett und fragte uns nach Kaffee. Auch sie kopierten unsere Ausweise und füllten das Arbeitsamt-Formular aus. Sie sagte, sie wolle mit ihrem Mann sprechen. Der wäre der Chef. Am Montag sollten wir uns bei ihr melden.
So schickte sie uns mit dem ausgefüllten Formular nach Hause. Wir sollten persönlich zum Arbeitsamt gehen und das Formular dort abgeben. Ich war ziemlich sicher, dass wir, wie das Gespräch verlaufen war, auf jeden Fall die Arbeit bekommen werden.
Genau so war es. Am Montag bekamen wir einen Brief mit dem Arbeitsangebot. Wir begaben uns zum Arbeitsamt, um persönlich dort alles abzugeben. Die Frau am Arbeitsamt beschied uns: „Wenn alle Formalitäten durchgeführt sind, bekommen wir einen Bescheid. Erst dann dürfen wir die Arbeit antreten.“
Nach drei Tagen bekamen wir einen Anruf aus Freudenberg. „Wir haben die Erlaubnis vom Arbeitsamt bekommen. Ihr könnt jetzt bei uns arbeiten. Wir holen euch morgen in Eiserfeld am Bahnhof ab.“
Anwar und ich, wir freuten uns. Abends packte ich meine Arbeitstasche wie gewöhnlich mit einer Wasserflasche, machte Brote und nahm natürlich auch meine Teekanne mit.“ Pünktlich um 6 Uhr waren wir in Eiserfeld am Bahnhof und warteten. Es kam ein gelbes Baustellenfahrzeug angefahren mit einer großen gelben Lampe oben drauf. Die beiden Männer vorne grüßten uns freundlich. Wir setzten uns hinten in den Transporter.
Ich war glücklich. Andererseits dachte ich: Das sieht aus wie in Chandigarh, wo ich herkomme. Dort gibt es einen Arbeitsmarkt für Wanderarbeiter. Es ist ein Kreisel, wo die Männer warten. Und es kommen Leute vorbei mit Autos und holen die Wanderarbeiter ab für einen Tag oder für eine Woche.
Nach 15 Minuten Fahrt waren wir auf der Baustelle. Es wurde eine Straße gebaut. Da wusste ich, was für eine Arbeit uns bevorsteht. Keine paar Minuten später kam ein großer Laster mit Schotter. Wir bekamen eine Schaufel in die Hand gedrückt und sollten oben auf der Ladefläche stehen. Dann sollten wir den Schotter gleichmäßig herunterwerfen, während der Laster langsam nach vorne fuhr.
Ich war sehr motiviert, aber ich hatte so etwas noch nie gemacht. Und so fing ich an, mit voller Geschwindigkeit den Schotter gleichmäßig zu verteilen. Aber es gab kein Ende. Nach einer Stunde war die Luft bei mir raus. Ich hatte das Gefühl, dass meine Arme immer länger und schwächer wurden. Die anderen merkten, dass unser Tempo immer geringer wurde. Der Laster hielt an und der Vorarbeiter kam hoch. Und er schaute uns genau an, wie wir die Schaufel hielten und den Schotter warfen. Dann nahm er selber die Schaufel in die Hand und zeigte uns, wie man die Schaufel hält und den Schotter schaufelt. Man soll die Schüppe mit dem Fuß in den Schotter drücken, sie dann hochheben und so den Schotter verteilen. Ich schaute ihn genau an. Er war genau so schlank wie ich. Aber seine Arme waren doppelt so dick wie meine Arme.
Als wir dann endlich fertig waren, dachte ich, es gäbe gleich Pause. Ich hatte Hunger und Durst. Aber so war es nicht. Wir hatten erst zwei Stunden gearbeitet. Pause gab es erst um halb Zehn. Der Vorarbeiter machte ein Gerät an, von dem ich erst später herausfand, dass es eine Rüttelplatte war. Die gab er uns in die Hand. Wo wir den Schotter verteilt hatten, hatten sie noch Sand darauf geschüttet und wir sollten mit der Rüttelplatte darüber gehen und alles eben machen. Die Rüttelplatte muss man richtig fest halten und gleichzeitig laufen, damit alles gleichmäßig festgedrückt und gerade gemacht wird. Das ist wichtig, damit man an der Straße weiter arbeiten kann.
Vor mir sah wie in einem Film die Leute, die in Indien an der Straße arbeiten. Sie sind in Schweiß gebadet und es tropft von ihrer Stirn herab. So tropfte auch mein Schweiß von meiner Stirn ab. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich sollte alles hinwerfen. Aber ich wollte mich auch nicht geschlagen geben. Anwar lachte, als er mich anschaute. Es viel ihm genau so schwer, aber er war mutiger als ich. Und er lachte die ganze Zeit. Zwischendurch sagte er: „Rana Singh, du wolltest auch nach Deutschland kommen. Jetzt hast du die Arbeit, die du wolltest. Jetzt stell dich nicht so an und mach weiter!“
Um 4 Uhr machten wir Feierabend. Alles viel mir so schwer. Ich konnte kaum laufen. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass mein Schuhe zu schwer waren. Ich wollte sie schon ausziehen, damit ich weniger Gewicht tragen müsste. Ich dachte schon wieder an das Restaurant. Vielleicht habe ich ja eine Chance, dort wieder anzufangen, wo ich vorher gearbeitet hatte. Vielleicht klappt das ja. Dann muss ich hier nicht weiter schuften.
Am nächsten Tag ging ich aber wieder auf die Arbeit. Überall hatte ich Muskelkater. Der ganze Körper schmerzte. Aber ich wollte nicht aufgeben. Fünf Tage riss ich mich schwer zusammen. Am Freitag fragte mich der Meister, ob wir Lust haben, Samstag zu arbeiten. Kaum war er mit dem Satz fertig, hatte ich ich ihn verstanden. „Nee, das will ich nicht.“
Nachdem ich fünf Tage so schwer gearbeitet hatte, fiel ich am Freitag Abend nach einer Flasche Bier sofort ins Bett. Als ich mich am nächsten Tag erholt hatte, fuhr ich zum Restaurant und wollte den Chef sprechen. Ich brachte mein Anliegen vor. Er schaute mich an: „Es tut mir wirklich leid. Ich habe schon jemand anderes der jetzt in der Küche arbeitet. Es tut mir leid. I am sorry.“ Mit schwerem Herzen verließ ich das Restaurant und blieb noch überlegend vor der Tür stehen. Ich dachte: „Diese Tür ist für mich jetzt auch für immer geschlossen. Eine andere Möglichkeit habe ich aber zurzeit nicht.“
Montag arbeitet ich also wieder auf der Baustelle. Da gab es viel zu tun. So vergingen vier Wochen eine nach der anderen. Die schwerste Arbeit war in der vierten Woche, als die Straße schon fast fertig war. Da mussten wir die Bordsteine setzen. Die waren ja schwer. Es kam ein großer Anhänger. Von dem mussten wir die Bordsteine herunter holen und dann genau in das Speisbett setzen, das die anderen vorbereitet hatten. Sie wogen vielleicht 50 Kilo. Und sie wurden immer schwerer mit der Zeit. Immer wieder schaute ich auf die Uhr, wann denn heute Feierabend wäre. Fast eineinhalb Kilometer weit haben wir an diesem Tag geschafft, Bordsteine zu setzen. Etwa 250 Steine haben ich geschleppt und gesetzt. Und Anwar machte genau so viel – immer abwechselnd mit mir.
An diesem Tag bin ich abends gelaufen wie die 80-jährigen Leute, die eine Buckel haben. Wie ein alter Opa, der wegen seiner Rückenprobleme kaum gehen kann. An diesem Tag wurde es mir klar, dass diese Arbeit nichts für mich ist. „Es ist mir egal, was mit mir passiert, aber diese Arbeit ist nicht für mich,“ dachte ich. Die ganze Woche hatte ich mich durchgeschlagen. Aber am Ende stand mein Entschluss fest. „Das ist nichts für mich.“
Am Samstag fasste ich mir Mut und wählte die Nummer der Firma. Es war wieder die freundliche Frau des Chefs da und ich erklärte: „Ich schaffe diese Arbeit nicht. Ich möchte gerne persönlich Bescheid sagen. Ich möchte nicht hier arbeiten.“ Zugleich sagte ich, dass ich einen Kollegen habe, der schon auf dem Bau in Indien gearbeitet hatte. Das war der Gurmeel Singh. Mit dem hatte ich im Vorfeld abgeklärt, dass er Sonntag aus Mönchengladbach kommen soll, damit ich ihn hier vorstellen kann. Und mit der Frau verabredete ich, diesen Kollegen am Montag mitzubringen. „Der hat in Indien lange auf dem Bau gearbeitet und der kann auch arbeiten.“ Sie meinte: „Ich finde das gut, dass ich angerufen habe und offen gesprochen haben. Das ist in Ordnung.“ Am Montag sollte ich mit dem Gurmeel Singh vorbei kommen.
Anwar war sauer auf mich, weil ich ihn alleine gelassen habe. Aber ich konnte nicht mehr. Er meinte: „Ich habe auch noch nie auf dem Bau gearbeitet. Aber, wenn du nicht willst, dann schauen wir mal, ob wir mit dem Kollegen zurecht kommen.“
Am Montag stellte ich der Chefin den Gurmeel Singh vor. Der sah von seinem Körperbau her etwas anders aus als ich. Er war deutlich kräftiger. Die Frau nahm wieder seine Daten auf und füllte ein Formular aus und sagte: „Sprich mit dem Arbeitsamt. Ich melde mich dann, wenn die Erlaubnis da ist.“ So ging ich mit Gurmeel zum Arbeitsamt und wir gaben alles ab. Nach vier Tagen bekam er die Erlaubnis. Gurmeel freute sich riesig, dass er Arbeit gefunden hatte. Einige Wochen später frage ich nach, wie der Gurmeel Singh arbeitete und sie waren sehr zufrieden mit ihm. Anwar und Gurmeel waren jetzt immer gemeinsam unterwegs. Sie verstanden sich gut und hatten Spaß miteinander.
Es gab eine Familie Schuhmann von der Eiserfelder Kirche. Sie hatten mich häufig besucht. Ich schilderte ihnen, dass ich auf dem Bau gearbeitet hatte und es nicht geschafft hätte. „Ich suche aber weiter,“ versicherte ich ihnen. Sie stellten mich eines Tages bei einer Computerfirma vor, wo ich lange arbeiten sollte. Das habe ich in einer eigenen Geschichte geschrieben, wo ihr das lesen könnt.
Als ich bei der Computerfirma arbeitete, habe ich auch geheiratet. Die Firma ging pleite und ich suchte wieder nach Arbeit