Früh am Morgen, als ich aufstand, um mich auf den Tag vorzubereiten, setzte ich mich zunächst auf die Bettkante, machte die Augen zu und betete. Mein Gebet beinhaltete immer auch den indischen Wunsch Sabataballa, nämlich, Gott um Frieden für alle zu bitten.
Meine Kollegen schliefen zu diesem Zeitpunkt noch und ich machte für sie den Tee nach indischer Art. Zunächst wird der Tee im Wasser gekocht, dann kommt Milch und Zucker hinein. Und schließlich füllte ich das Getränk in die Thermoskanne. All das erledigte ich noch im Halbschlaf. Sodann zog ich mich vollständig an und zog meine Schuhe fest. Jetzt kamen die Kollegen langsam die Treppe runter. Die Tasche war gepackt und dann liefen wir Fünf wie die Enten in einer Reihe in Richtung Arbeit – immer der Nase entlang.
Morgens früh um 6 Uhr war viel los auf der Straße. Viele Autos waren unterwegs und fuhren in alle Richtungen hin und her. Da hatte ich das Gefühl, dass morgens um 6 schon alles durcheinander war. Jeder wollte zu seiner Arbeit und kämpfte sich durch den Autoverkehr. Und die Kollegen liefen durch dieses Gewühl hindurch der Nase entlang zu ihrer Firma. Manchmal unterhielten sie sich und manchmal waren sie die ganzen 15 Minuten hindurch still.
Bei der Firma angekommen gab es ein riesiges Tor und ein kleines Tor, durch das die Leute in die Firma hineingingen. Da stand ein großer Fahrradständer und etliche Fahrräder parkten dort. Ein Kollege, Jaktar hieß er, sagte mir: „So viele kommen mit dem Fahrrad auf die Arbeit. Sie haben doch Geld genug. Sie müssen nicht wie in Indien mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Wenn man Geld hat und Arbeit hat, dann kann man sich doch ein Auto kaufen. Das verstehe ich ja gar nicht. Wenn ich so viel Geld hätte, würde ich gar nicht Fahrrad fahren. Dann würde ich ein schönes Auto kaufen.“
An dem Tor saß ein Pförtner in seinem Häuschen. Als wir vorbei kamen, warf er uns immer einen kritischen Blick zu. Wenn wir „Guten Morgen“ sagten, gab er manchmal Antwort und manchmal kam gar nichts. Viele Deutsche, die kamen, schauten den Pförtner gar nicht an. Sie sagten einfach „Morgen“ und liefen stramm weiter.
Dann stempelten wir die Karte an der Stechuhr und stellten schnell die Tasche in den Pausenraum auf einen Tisch. Ich holte die Thermoskanne heraus und Tassen. Da fing ein Kampf an zwischen den Kollegen, wer mehr Tee bekäme. Manchmal habe ich da nur eine halbe Tasse Tee bekommen. Und wenn ich dann zum zweiten mal nachschenken wollte, war schon alles weg.
Pünktlich um 6 Uhr lief das Fließband an, auf dem Computer zusammen gebaut wurden. Wir mussten die Computer aus den Kartons heraus holen, den Deckel abschrauben und alles auf das Band stellen. Die Frauen, die weiter hinten standen, arbeiteten weiter an den Computern. Eine steckte die Kabel, eine andere baute das Netzteil ein und so weiter. Am Ende wurden die Computer getestet und wieder eingepackt.
Wir waren neu in der Firma. Und meistens liefen wir bei der Arbeit herum wie aufgescheuchte Hühner, wie man in Deutschland sagt. So, als wenn eine Katze hinter den Hühnern her wäre. Die Deutschen, die das beobachteten, schmunzelten. Einer kam zu mir und sagte: „Raja, ihr müsst so viel arbeiten, wie ihr jeden Tag abliefern könnt. Und wenn ihr jetzt rennt, werdet ihr dabei müde. Diese Stückzahl könnt ihr nicht jeden Tag schaffen. Wenn ihr aber müde werdet und weniger schafft, kommt der Chef auf jeden Fall und sagt: „Ihr habt doch immer so viele Computer gemacht und jetzt ist es weniger. Was ist denn los?“ Dann bekommen wir Schwierigkeiten. Ihr müsst vernünftig arbeiten, aber nur so viel, wie ihr jeden Tag regelmäßig schaffen könnt mit normaler Kraft.“
Was dieser Mann da sagte, war eine große Weisheit. Aber ich begriff gar nicht, was er von mir wollte. Unser Ziel war etwas ganz anderes. Deshalb dachten wir: „Was will der denn von uns? Wir müssen doch in wenig Zeit maximal Geld verdienen.“ Ein Kollege sagte: „Jetzt bin ich hier ohne gesicherten Aufenthalt. Ich muss irgendwie eine Aufenthaltserlaubnis bekommen egal in welchem europäischen Land. Und wenn ich anderswo hin fliehen muss, brauche ich Geld! Was soll ich denn machen?“ Ein anderer meinte: „Ich will unbedingt in die USA. Dafür brauche ich 10 bis 15 Tausend Mark. Je eher ich dieses Geld verdiene, desto schneller kann ich es versuchen.“ Und er fuhr fort: „Der hat gut reden. Die haben einen deutschen Pass, ein Haus, ein Auto. Die haben alles. Die haben überhaupt keine Schwierigkeiten und wissen gar nichts.“ Ein anderer sagte sogar: „Ich habe mein Land in Indien an die Bank gegeben, damit ich herkommen konnte. Jetzt bin ich froh, dass ich Arbeit habe und Geld verdiene, damit ich alles zurück holen kann.“ Später redeten sie dann alle durcheinander. Einer vertraute mir an: „Ich habe meiner Mutter versprochen, dass ich ihr ein kleines Häuschen baue. Ich habe zwei Nichten, die heiraten müssen. Auch da muss ich Geld zahlen. Und meine zwei Schwestern müssen heiraten. Auch da muss ich zahlen. Die haben gut reden hier.“
All das hörte ich mir an und dachte: „So Unrecht haben die ja gar nicht. Ich habe es ihnen zwar nicht gesagt. Aber ich habe meiner Mutter auch versprochen, dass ich ihr in der Hauptstadt ein kleines Haus kaufe. In meinem Inneren wollte ich für mich auch ein kleines Haus kaufen mit einem schönen Eingangstor, wo ich im Sommer draußen sitze und mich sonnen kann.“
Die Kollegen meinten dann: „Hör auf zu reden. Was der Deutsche gesagt hat, ist seine Einsicht. Die müssen wir ihm nicht nehmen. Wir müssen ran an die Arbeit.“
Theoretisch mussten wir 36 Stunden in der Woche arbeiten. Freitag arbeiteten wir bis 12 Uhr. Samstag, Sonntag war theoretisch frei. Ende des Monats bekam wir immer unser Geld. Interessant wurde es, wenn wir Überstunden machten. Die ersten zwei Stunden bekamen wir 25 % Zuschlag und für die folgenden Stunden 50%. Wir verdienten 12 Mark die Stunde. 25% machten fast 15 Mark. 50% machte 18 Mark. Und wir dachten: „Schau mal, wenn du über 2 Stunden mehr machst, bekommst du 6 Mark mehr.
Deshalb versuchten wir, immer mehr Überstunden zu machen, um immer mehr Geld zu verdienen. Die Deutschen haben Überstunden gemacht, wenn der Meister sie gefragt hat. Bei uns war das anders. Wir haben den Meister gefragt: „Warum gibt es keine Überstunden?“ Wir sind immer wieder dahin gelaufen. „Meister, wir haben noch viel zu tun, warum dürfen wir keine Überstunden machen?“ Oder wir haben ihm schon mal gesagt: „Schau mal, dahinten liegen viele Kartons. Die oberste Etage muss noch komplett sauber gemacht werden. Und der Container ist neu gekommen. Er ist ja leer. Da können wir Pappen reinwerfen. Es gibt auch einen Plastikcontainer, der fast leer ist. So viele Plastiktüten liegen überall in der Gegend.“
So haben wir alles Mögliche versucht, dass wir an Überstunden kommen. Und manchmal gab der Meister nach: „Okay, dann mach eine Stunde, mach das fertig und geh dann nach Hause. Ich geh jetzt weg. Ihr stempelt dann und dann seid ihr weg.“
Im September hatten wir eine Betriebsversammlung. Alle Beschäftigten versammelten sich und der Meister ergriff das Wort. Teilweise konnte ich es verstehen. „Bisher machen wir 400 Computer. Wir haben aber einen Auftrag, 800 Computer jeden Tag zu machen. Wir sind froh, dass wir diesen Auftrag bekommen haben. Wir haben aber nicht so viele Leuten.“ Jeder sollte bitte mitziehen, damit wir nicht mehr jeden Tag 8 Stunden arbeiten sondern 10 Stunden. „Wer ist dafür?“
Ja, wir haben sofort die Hände hochgerissen. Alle 5 Leute von uns haben gesagt: „Wir sind dabei.“ Aber von den anderen aus dem ganzen Betrieb hat sich keiner gemeldet. Und sie schauten uns böse an. Ich hielt ihnen entgegen: „Was habt ihr denn? Wir haben doch nur gesagt, dass wir bereit sind, zu arbeiten. Ich versteh die Welt nicht mehr.“
Es wurden viele Fragen gestellt. „Ist das sehr wichtig? Muss man zehn Stunden arbeiten? Ist das freiwillig?“ Einer sagte: „Ich habe Steuerklasse 1. Da ist es für mich überhaupt nicht interessant, mehr Stunden zu machen. Es geht davon viel für die Steuern weg.“ Eine Frau meinte: „Nein, einer passt auf meine Kinder auf. Das geht nur bis um 2 Uhr. Wenn ich Feierabend mache, hole ich meine Kinder ab. Das geht nicht. Ich kann dieses Arrangement nicht ändern.“ Ein Mann beklagte sich: „Ich habe Probleme mit dem Rücken und mit meinen Knien. Mein Arzt hat gesagt: Ich darf nicht mehr als acht Stunden arbeiten.“ Und alle schauten bedrückt drein.
Ich verstand die Welt nicht mehr, warum sie auf einmal alle so traurig waren. Ihnen hingen die Gesichter herunter. Eine Frau wurde besonders deutlich: „Am Fließband arbeiten vor allem die Frauen. Wir haben zuhause Haushalt und Kinder. Da ist es doch unmöglich von heute auf morgen auf einmal zu verlangen, jeden Tag zwei Stunden mehr zu machen.“
Der Meister antwortete: „Da müssen wir mal sehen, was wir machen können. Wenn einer sagt, er hätte Steuerklasse 1 und viel bezahlen muss, können wir ein Zeitkonto einrichten. Dann können die Überstunden im Winter, wenn wir viel zu tun haben, auf das Zeitkonto gehen. Und wenn das Sommerloch kommt und wir im Sommer wenig zu tun haben, kann er diese Stunden frei nehmen. Dann brauchen wir keine Kurzarbeit. Da müssen wir eine Vereinbarung treffen.“
Es gab ein langes Gespräch hin und her. Ich merkte, dass keiner so lange arbeiten wollte. Einer ergänzte: „Warum stellt ihr keine weiteren Leute ein? Es gibt doch viele, die keine Arbeit haben.“
Der Meister beriet sich mit dem Geschäftsführer und zog sich etwas zurück. Es bildeten sich Gruppen, die eifrig miteinander diskutierten. Teilweise bekam ich es mit. Meine Kollegen fragten mich, worum es ging, weil ich etwas mehr verstand als sie.
Eine Frau, die vorher viel gesprochen hatte, kam zu mir und meinte: „Es ist alles schön und gut, dass ihr Geld verdienen wollt. Wenn der Chef oder der Meister etwas sagen, müsst ihr erst einmal genau zuhören, was die überhaupt wollen. Dann muss man überlegen, wie man Antwort gibt. Nicht erst direkt „Ja“ sagen und dann später einen Rückzieher machen „Nein, ich will nicht.“. Das geht dann nur sehr schwer. Ihr seid alle alleinstehend. Da müsst ihr schon zusehen, welche Lohngruppe ihr habt. Manchmal ist es besser, 20 Stunden zu arbeiten als 40 Stunden und dann noch Überstunden zu machen. Da habt ihr vielleicht nachher weniger Netto in der Tasche. Darauf müsst ihr auch achten. Davon habt ihr noch keine Ahnung.“
Langsam löste sich alles auf. Jeder ging zum Fließband. Die Frauen diskutierten miteinander und die Aufregung war groß. Es sah so aus, als wenn sie sich Sorgen machten über die ganze Sache. Nach und nach begannen sie wieder zu arbeiten.
Ich verstand den Sinn dieser Diskussion nicht und fragte mich: „Wenn der Chef viel zu tun hat, dann müssen wir alle mehr arbeiten. Und wenn ich mehr arbeite, bekomme ich auch mehr Geld. Und der Chef verdient auch mehr Geld. Wenn er mehr verdient und den Lohn bezahlen muss, schmerzt es ihn doch nicht. Deshalb verstand ich den Zusammenhang nicht, weshalb sie sich so extrem aufgeregten. Die Frau muss doch nicht länger arbeiten. Wir wollen länger arbeiten und Geld verdienen.“
Irgendwann hatten wir dann Feierabend. Wir nahmen wie immer unsere Taschen und wollten nach Hause laufen. Am Ende des Firmengeländes standen wieder alle beieinander in Gruppen und redeten. Ich stellte mich zu ihnen. Sie drehten sich aber weg und niemand sah uns mehr an. Ich kam mir vor wie ein ungeladener Gast. Ich wartete etwas, blieb aber trotzdem stehen.
Irgendwann schaute sich ein blondes Mädchen um. Sie hieß Katja und schaute mich mit blauen scharfen Augen an und fing an, sich aufzuregen. „Wegen euch Ausländern haben wir alle Schwierigkeiten. Ihr habt den ganzen Markt kaputt gemacht. Ihr macht Überstunden ohne Kommentar. Ihr macht Samstagsarbeit und ihr macht Sonntagsarbeit. Bisher habe ich immer 15 Mark bekommen und die Arbeitgeber haben gebettelt, dass wir für sie arbeite. Ich habe mein Geld immer bekommen. Und jetzt arbeitet ihr alle für 12 Mark und macht auch noch Überstunden ohne Ende und ihr fragt auch noch danach und wollt es selber. Ihr hängt nur im Betrieb.“ Ihr Gesicht war ganz knallrot.
Ich wollte ihr gerne antworten. Aber mein Deutsch reichte nicht, um eine vernünftige Antwort zu geben. Ich winkte meinen Kollegen und sagte: „Komm, wir gehen jetzt.“ Dann gingen wir nach Hause. Alle fragten mich: „Was hat sie denn gesagt?“ Und ich gab wieder, was sie uns mitteilen wollte.
Dann sagte einer: „Ja, du regst dich jetzt auch auf und bist sauer auf sie. Aber ganz ehrlich, mein Freund: Dieses Land gehört nicht uns. Es ist ihr Land. Wir sind nur Gast hier. Wir können nicht mit ihnen kämpfen. Es ist Fakt, dass das Land ihnen gehört.“ Es fühlte sich für mich an, als wenn ein Eimer mit kaltem Wasser über mir ausgegossen wurde. Ich regte mich einfach auf, weil sie uns so beleidigt hatte.
Noch ein anderer meinte: „Ja, die haben nicht unsere Sorgen. Sie brauchen keine Aufenthaltserlaubnis. Sie müssen auch nicht alle drei oder sechs Monate eine neue Verlängerung im Ausländeramt holen. Sie wissen auch gar nicht, welche Probleme wir haben. Wenn wir jetzt die Arbeit verlieren, weil nicht mehr zu tun ist und keine Arbeit mehr da ist, dann müssen wir zum Ausländeramt. Und wir müssen bei ihnen betteln, dass wir wieder Geld von der Sozialhilfe bekommen. Wenn wir neue Arbeit finden, müssen wir wieder zum Arbeitsamt, um überhaupt die Erlaubnis für diese Arbeit zu bekommen. Beim letzten Mal hat einer mir im Arbeitsamt erklärt: „Zuerst kommen die Deutschen, dann kommen die Europäer, dann kommen die Gastarbeiten und dann erst kommen wir, die Flüchtlinge, um überhaupt erst eine Arbeitserlaubnis zu bekommen. Wir müssen dort alle Papiere abgeben und bekommen dann erst nach zwei oder drei Wochen Bescheid. Und dann hat schon jemand anderes auf dieser Arbeitsstelle angefangen. – Die wissen das alles gar nicht. Und wir müssen es ihnen auch nicht erzählen. Was soll ich sagen? Die sind einfach bekloppt.“
Und dann kam noch einer. Es was Jaktar. Er war Analphabet, aber er brachte immer wieder erstaunliche Aussagen hervor: „Hier Raja, du kennst doch die Lakschmi. Lakschmi ist die Göttin des Geldes. Meine Mutter hat immer gesagt: „Wenn du eine Gelegenheit hast, Geld zu verdienen, verdiene es. Dann ist die Göttin Lakschmi glücklich. Wenn du aber die Möglichkeit bekommen hast, und dein Geld nicht verdienen willst, dann ist die Göttin ärgerlich. Und dann bekommst du nur schlechte Gelegenheiten, um Geld zu verdienen. Deshalb, wenn du die Gelegenheit bekommst, musst du in Liebe zur Göttin Lakschmi arbeiten und Geld verdienen. Du musst einfach nehmen, was du bekommen kannst.“
Und einer meinte: „Wenn ich nach den Steuern nur eine Mark mehr als meinen Stundenlohn bekomme, mache ich die Überstunden. Es ist mir doch vollkommen egal, was die da sagen.“ Ein Kollege hinter mir bestand darauf: „Ich brauche in 6 Monaten 10.000,- Mark. Sonst bin ich verloren. Ich muss Geld nach Hause schicken. Es geht nicht anders.
Am nächsten Morgen folgten wir wieder wie immer unserem Rhythmus und waren wieder pünktlich auf der Arbeit. Ich hatte das Gefühl, dass der Meister total freundlich zu mir war. Vielleicht bildete ich mir das nur ein. Vielleicht war es aber auch, weil wir uns auf die Management-Seite gestellt hatten.
Als sich die Gelegenheit ergab, bestätigte ich dem Meister: „Ich kann von allen Kollegen sagen: Wir sind bereit, Überstunden zu machen. Und wenn Samstag und Sonntag notwendig sein sollte, sind wir dabei. Aber eine Bitte haben wir. Wir wollen kein Zeitkonto oder, dass das Geld im Sommer bezahlt wird. Wir wollen die Überstunden in jedem Monat gleich ausbezahlt bekommen. Wir brauchen unbedingt Geld. Wenn das Geld später bezahlt wir, geht es nicht für uns.“
Der Meister ging ins Büro und sprach mit dem Chef. Als er zurückkehrte meinte er: „Es geht klar. Wenn ihr länger arbeitet, bekommt ihr jeden Monat das Geld ausbezahlt für die Stunden, die ihr gemacht habt. Ich habe das dem Chef vorgeschlagen und es geht so klar.“ Und alle waren glücklich, dass wir die Stunden machen konnten und wir dafür sofort das Geld bekommen sollten.
Die Deutschen hielten von uns Abstand. Wenn wir „Guten Morgen“ sagten, gaben sie keine Antwort. Und sie versuchten, uns auf verschiedene Art zu ärgern. Sie stellten die Palette mit dem Material zu weit vom Band entfernt ab. Oder sie gaben uns nicht gleich die Schrauben, die wir brauchten. Es gab immer wieder Reibereien. Aber wir ließen uns nicht stören und machten immer unsere Arbeit.
Schließlich fanden sich doch viele, um eine Stunde länger zu machen oder am Samstag sechs Stunden zu arbeiten. Wir arbeiteten aber jeden Tag zwei Stunden extra. Und Samstag und Sonntag waren wir auch dabei.
Dennoch schaffte die Firma die erforderliche Stückzahl immer noch nicht. Deshalb begann sie, in zwei Schichten zu arbeiten. Die eine ging von 6 Uhr bis 14 Uhr, die andere von 14 bis 22 Uhr. Das war natürlich eine gefundene Sache für uns. Dann haben wir u 6 Uhr angefangen und eben alle zwei Schichten gemacht von morgens 6 Uhr bis abends 10 Uhr. Wenn sie von der Frühschicht nach Hause gingen, konnten sie nicht sehen, wie lange wir blieben. Wir sind einfach bis 10 Uhr da geblieben. Die anderen haben es gar nicht gemerkt. Und Samstag und Sonntag machten wir zusätzlich dabei.
Im Oktober und November und auch im Dezember ging das so weiter. Jeden Tag machten wir zwei Schichten. Unser Meister und der Chef waren glücklich mit uns. Die Deutschen haben es dann doch gemerkt, dass wir von morgens früh bis spät in die Nacht arbeiteten. Und sie sagten nichts mehr dazu. Sie schüttelten nur den Kopf und liefen an uns vorbei.
Es waren immer wieder die gleichen Leute, die beim Vorbeilaufen den Kopf schüttelten. Ich fragte mich: „Was haben die denn?“ Dann merkte ich, dass sie zwar nichts sagen wollten, aber sie wollten doch ein Zeichen setzen. Es ging auch schon mal jemand zum Meister und regte sich über uns auf. Der Meister sollte der Berufsgenossenschaft oder dem Arbeitsamt Bescheid geben, dass wir sechzehn Stunden arbeiteten. Wenn irgendwo ein Unfall passierte, dann wäre er dran.
Aber uns juckte das nicht. Wir machten unsere Sache weiter. Unser Ziel war wie immer, in kurzer Zeit maximal viel Geld zu verdienen. Unsere Zukunft war ja unsicher. Wir wussten nicht, wie lange der Asylantrag laufen wird und ob wir gehen mussten. Und wir wussten auch nicht, wie lange wir die Überstunden machen durften. Wenn die Aufträge weniger werden, machen wir ja wieder ganz normale Stunden. Dann haben wir die Gelegenheit gehabt, Geld zu verdienen, und haben sie nicht genutzt. Wenn dieser Auftrag vorbei ist, haben wir vielleicht überhaupt keine Gelegenheit mehr, überhaupt Geld zu verdienen. Das waren die Gedanken, die uns immer durch den Kopf gingen.
Wenn wir von morgens bis abends gearbeitet hatten, waren wir irgendwann alleine. Alle anderen waren schon weg und wir machten weiter. Irgendwann war der Meister es leid. Er holte mich in sein Büro und fragte: „Wie ist das? Ihr kommt doch morgens um 6 Uhr oder früher und bleibt bis spät abends. Da muss immer einer warten, bis ihr nach Hause geht, um alles abzuschließen. Wie ist das? Bist du einverstanden, wenn du den Schlüssel bekommst? Dann könnt ihr auf- oder abschließen. Das kann auch so sein, wenn ihr Samstag oder Sonntag kommt. Wenn die Arbeit erledigt ist, könnt ihr dann selber abschießen.“ Ich war sofort einverstanden damit. Dann erklärte er mir, dass der Schlüssel ein Generalschlüssel ist. Ich hätte alle Hallen damit aufmachen können. Und ich müsste gut aufpassen. Dieser Schlüssel kostet ein paar Tausend Mark. Und ich musste auch unterschreiben dafür.
Jetzt hatten wir auf einmal freie Bahn. Wir kamen am Samstag und am Sonntag. Arbeit gab es genug. Wir konnten kommen und gehen, wann wir wollten.
Es begann die Weihnachtszeit. Beleuchtung gab es überall. Die Privathäuser, die ganzen Straßen waren erleuchtet. Auch im Einkaufszentrum in Eiserfeld und in Siegen hatte man schöne Lichter aufgehängt. Das gefiel mir ganz gut. Die Leute waren überall freundlich. Ich wusste nicht, ob mir das nur so vorkam oder ob sie tatsächlich so waren. Ich hatte mit manchen Leuten auch schon andere Erfahrungen gemacht. Die waren nach vorne hin freundlich und hinten herum waren sie ganz anders. Dennoch – mir gefiel die ganze Stimmung sehr gut.
Weil wir einen Schlüssel hatten, arbeiteten wir auch an gesetzlichen Feiertagen trotzdem in der Firma. Der Meister sagte uns: „Wenn ihr am Feiertag arbeitet, sagt das bitte bloß den anderen nicht. Sonst habe ich Schwierigkeiten und ihr auch.“ Deswegen hielten wir die Klappe und erzählten niemandem von unseren vielen Stunden. Die Stempelkarten taten wir alle fünf zusammen und steckten sie ganz unten ein, damit sie keiner sehen konnte.
Der große Tag war, wenn wir die Lohnabrechnung erhielten. Sie hatte eine grüne Farbe. Wenn die Frau von der Lohnabrechnungsstelle mit dem Stapel grüner Abrechnungen in der Hand herauskam, waren wir richtig glücklich. Jeder bekam dann seine Lohnabrechnung ausgehändigt. Dann gingen wir schnell nach Hause. Dort gab es eine große Unterhaltung. Jeder öffnete seine Lohnabrechnung und las sie aufmerksam. Aber zunächst wollte einer dem anderen nicht sagen, wie viele Stunden er hatte und wie viel Geld er verdient hatte.
Zum Spaß sagte ich dann den Kollegen meinen Lohn immer erst in Rupien, was ich in Indien bekommen hätte. Das hörte sich sehr gut an, dass man so viel Geld verdient hat. So haben wir es dann doch einer dem anderen erzählt. Und es gab auch einen kleinen Wettbewerb dabei. Einer sagte: „Ich habe 3.000,- Mark bekommen.“ Der andere sagte: „3.200,-“ Und dann fragen sie: „Wie viele Stunden hast du denn gearbeitet? Du hast gewiss mehr Überstunden gemacht als ich. Beim nächsten Mal ändert sich das. Ich komme dann auch nicht mehr nach Hause und mache noch mehr Stunden als du.“
Einer, der mit mir arbeitete, hieß Bitu. Er meinte, wenn er zwei Jahre lang so viel Lohn bekäme wie derzeit, dann würde er nach Indien zurück gehen. Er ist aus der Landwirtschaft. Das würde ihm genügen, um dort etwas aufzubauen. Ein anderer sagte: „Wenn ich fünf Jahre einen solchen Lohn bekomme, dann wäre es für mich möglich.“ Dann könnte er seinen Kredit zurück zahlen und würde ein Stück Land kaufen. Dann wäre hier alles für ihn erledigt. Dann wollte er nicht mehr in diesem kalten Land bleiben.
Ich hatte all dem zugehört und wollte mein Herzensanliegen nicht preisgeben. Was mich bewegte, war ganz etwas anderes. Ich wollte gerne in diesem Land bleiben, weil mir das System hier gefiel. Ich wollte zum Besuch nach Indien fliegen können und immer wieder hierhin zurückkehren können. Das waren meine Gedanken und mein Wunsch.
Ich wollte gerne hier bleiben. Und, wenn meine Kollegen so anfingen zu reden, hatte ich immer die Stimme meiner Mutter im Kopf. Meine Mutter hatte gesagt: „Mein Sohn, du weißt, wie dein Vater ist. Er redet immer von Kommunismus. Er meint, es braucht nicht jeder ein Haus. Aber ich habe diesen Wunsch. Ich hätte gerne ein kleines Häuschen, wo ich in Ruhe leben kann. Du weißt, wie die Situation ist. Wenn man ein eigenes Haus hat, ist man versorgt. Zu essen bekommt man immer irgendwie. Ein bisschen arbeiten muss man. Aber das kostet nicht so viel Mühe, um über die Runden zu kommen.“ Ich hatte ihr versprochen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Und ich wollte mich bemühen, ihren Traum zu verwirklichen. Deshalb wollte ich jede Gelegenheit nutzen, um Überstunden zu machen und Geld zu verdienen.
Im Oktober und November arbeiteten wir fast jeden Tag 16 Stunden und samstags und sonntags. Es waren etwa 300 Arbeitsstunden pro Monat. Im Dezember war es noch mehr. Die Deutschen sagten: „Im Dezember haben wir viel zu tun. Es ist ein Familienfest und wir müssen alles organisieren. Wir müssen zuhause vieles vorbereiten. Deshalb wollen wir keine Überstunden machen.“ Das kam uns zu Gute und wir arbeiteten noch mehr – manchmal bis 11 Uhr in der Nacht und auch samstags und sonntags.
Wenn ich spät in der Nacht nach Hause kam, aß ich etwas und ging duschen. Kaum hatte ich mich dann hingesetzt, schlief ich ein. Und manchmal wachte ich dann nachts auf. Ich hatte nämlich von der Arbeit geträumt, wie die Computer auf dem Fließband liefen. Und auf einmal blieb das Fließband stehen und der Berg des unverarbeiteten Materials wurde immer größer. Ich lief umher und nichts ging mehr. Der Meister kam herbei und brüllte herum. – Und dann wachte ich nassgeschwitzt auf und war froh, dass das alles nicht in Wirklichkeit geschehen war.
In diesen Tagen stand ich wie gewöhnlich auf und wusch meine Haare. Allerdings hatte ich vergessen, wie kalt es um diese Jahreszeit draußen ist. So ging ich mit nassen Haaren nach draußen. Es wehte ein so eiskalter Wind, dass meine Ohren zu schmerzen begannen, meine Nase anfing zu laufen und mein Bart weiß gefroren war. Es waren minus 15 Grad und meine Haare froren fest zu Eis. Erst die Heizung in der Firma vermochte es, meine Haare aufzutauen und zu trocknen. Was blieb, waren extrem starke Kopfschmerzen. Es kam mir so vor, als wenn mein Kopf platzt. Am Nachmittag war ich so erschöpft, dass ich nicht mehr länger arbeiten konnte. Ich nahm mir vor: „Nie wieder gehe ich mit nassen Haaren nach draußen.“
Als ich am Nachmittag nach Hause ging, überlegte ich, ob ich zum Arzt gehen sollte. Aber ich scheute mich davor, weil ich dann weniger Überstunden machen konnte als meine Kollegen. Ich wollte im Konkurrenzkampf mit ihnen nicht zurückfallen. Sie sollten auch nicht mehr Geld verdienen als ich. Und ich dachte: „Auch, wenn heute Mittwoch ist, gehe ich doch erst Freitag zum Arzt. Dann kann ich vielleicht Samstag und Sonntag ausruhen.“ So arbeitete ich bis Freitag ganz normal weiter und ging am Freitag des mittags nach Feierabend zum Arzt.
Die Arzthelferin schaute mich an und wollte mich wegschicken: „Nein, am Freitag haben wir normalerweise zu. Heute behandeln wir nur Notfälle.“ „Das ist ein Notfall“, entgegnete ich. „Ich habe starke Kopfschmerzen und auch Rückenschmerzen. Ich kann nicht mehr.“ Sie schaute mich mit einem kritischen Blick an und ich fühlte, dass sie etwas Mitleid mit mir bekam. „Okay, dann musst du lange warten. Da sind noch einige Leute vor dir.“ Ich war einverstanden. „Egal, wie lange ich warten muss, ich habe Zeit. Ich habe schon Feierabend und kann auch gerne warten.“
So trat ich in das Wartezimmer, hing meine Jacke auf und suchte mir einen Stuhl in der Ecke an der Heizung. Ich bemerkte, dass es dort sehr schön warm und gemütlich war in diesem Zimmer. Aus dem Fenster sah ich in den Garten der Arztpraxis. Der ganze Garten war weiß von Schnee. Ich betrachtete dort eine Gartenhütte aus Holz. Vom Dach herab hingen Eiszapfen. Manche Eiszapfen waren richtig groß und ich sah Wassertropfen daran herunterlaufen und manchmal tropften sie zu Boden. Immer, wenn ich bis 50 zählte, fiel ein Wassertropfen herunter. Das wiederholte ich dreimal und ich wurde dabei immer ruhiger. Am weißen Fenster sah ich draußen eine schwarze Katze, die dem Arzt gehören musste. Sie schaute mich an und bewegte ihren Schweif. Ich hatte das Gefühl, ich wäre in eine warme Wolldecke eingemummelt.
Dann fielen meine Augen zu und ich schlief ein mit dem Gedanken, wie schön die Natur ist. Mit Worten konnte ich es nicht fassen, was Gott uns alles geschenkt hat. Der schöne Blick auf den weißen Schnee, die warme Sonne darauf und das gläsern spiegelnde Eiserfüllten mich.
Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Träume begannen und tief in meinen Knochen konnte ich meine Müdigkeit spüren. Ich begann laut zu atmen und wachte dann durch mein eigenes Schnarchen auf. Als ich mich umschaute, sah ich eine ältere Dame dort sitzen. Die konnte ihr Lachen nicht mehr unterdrücken und begann lauthals und herzlich zu lachen. Sie musste sich einen Schal vor den Mund halten, um wieder zur Ruhe zu kommen. Es war ihr peinlich und ich sollte nicht denken, dass sie über mich lacht. Schließlich schaute sie mich freundlich lächelnd an. „Es ist nicht schlimm. Jedem kann das passieren. Draußen ist es bitter kalt und hier schön warm, da wird man müde. Ich weiß, dass Sie viel arbeiten. Ich sehe Sie immer morgens, wenn sie zur Arbeit gehen und spät abends, wenn Sie zurückkehren. Da ist es doch normal, dass Sie irgendwann müde werden und kaputt sind. So ist das Leben, mein Sohn. Man darf sich nicht klein kriegen lassen.“
Und dann lächelte sie weiter freundlich zu mir herüber. Einen kleinen Augenblick dachte ich: „Das ist die Seele meiner Mutter, die da zu mir spricht.“ Und dann rief die Arzthelferin durch den Lautsprecher Frau Stein auf. Dieser Name ist bis heute in meinem Gedächtnis. Die ältere Dame stand auf, nahm ihren Stock und ging zur Tür. Und ich sprang schnell auf und hielt ihr die Tür auf. Sie war darüber sehr glücklich und sagte: „Danke, junger Mann.“ Und sie lächelte weiter. Ihr Gesicht wies viele Falten auf, aber ich fand das sehr beruhigend.
Jetzt saß ich alleine im Zimmer und wartete. Eines hatte mich tief bewegt. Ich war so beschäftigt mit meiner Arbeit und damit, mich an das System anzupassen, dass ich dachte: „Niemand schert sich um mich und achtet auf mich.“ Aber es gibt doch viele Leute, die genau wissen, wann ich morgens zur Arbeit gehe und abends nach Hause komme. Ich war immer der Meinung, dass Gott weiß, was ich tue, wo ich mich bewege und was ich denke. Es gibt doch auch Gottes Menschen, die mich beobachten.
Später kam die Arzthelferin herein und bedeutete mir, dass ich mitkommen solle. Im Arztzimmer angelangt sagte ich: „Gute Tag Herr Doktor!“ Und der schaute mich freundlich an und lachte. „Guten Tag, haben Sie gut geschlafen?“ „Ja“, antwortete ich. Da wusste ich, dass ich so laut geschnarcht hatte, dass die ganze Praxis das bemerkt hat.
Der Arzt fragte: „Was kann ich für Sie tun?“ Ich beschrieb meine sehr starken Kopfschmerzen und meine Rückenschmerzen. Der Arzt drückte meinen Kopf an mehreren Stellen und stelle fest, wo mein Kopfschmerz genau saß. Dann sollte ich mich auf dem Bauch hinlegen. Er tastete meinen Rücken ab und bemerkte: „Ihr Rücken ist so hart wie Stein. Haben sie körperlich sehr viel Arbeit?“ Ich erklärte ihm, dass ich Computer auspacken und hochheben musste. Der Arzt fragte: „Zeigen Sie mir mal, wie sie das machen.“ Und dann machte ich ihm vor, wie ich mich immer gebückt hatte und meine Arbeit verrichtet habe.“ „Nein,“ sagte er, „das machen Sie falsch. Wie macht man das, wenn man etwas vom Boden hochhebt? Man macht den Rücken stramm und geht in die Hocke. Die Belastung geht auf die Oberschenkelmuskeln. Mit denen hebt man dann alles hoch. Das müssen Sie üben. Die Belastung sollte nicht auf den Rücken gehen. Mit ihren Muskeln sollten sie arbeiten.“ Er gab mir eine Überweisung zu einem Physiotherapeuten, damit der mir weiterhelfen könnte.
Als der Arzt sich angehört hatte, wie ich den Morgen mit nassen Haaren losgegangen war, sagte er: „Wir leben in Deutschland. Hier ist es sehr kalt. Wenn man morgens zur Arbeit geht, muss man warm bleiben. Am besten duscht man abends. Dann ist man erfrischt und kann auch besser schlafen. – Im Sommer kann man sich natürlich auch morgens duschen.“
„So können Sie nicht arbeiten,“ eröffnete mir der Arzt. „Sie müssen jetzt einige Tage zuhause bleiben.“ Er schrieb mich eine Woche krank. „Okay, bis nächste Woche Freitag habe ich Sie krank geschrieben. Wenn es Ihnen bis nächste Woche nicht besser geht, dann kommen Sie Freitag noch mal her und dann sehen wir weiter.“ Dann ging er zum Schrank und gab mir Tabletten, damit ich sie nicht kaufen müsste.
Ich verabschiedete mich vom Arzt und nahm das Rezept für den Physiotherapeuten mit. Auf dem Nachhauseweg begann ich zu überlegen: „Jetzt haben wir viel zu tun. Wenn ich die ganze nächste Woche krank bin, kann ich keine Überstunden machen. Meine Kollegen machen dann mehr Überstunden als ich und ich habe weniger Geld. Aber auf der anderen Seite schmerzt mein Rücken und mir geht es nicht gut. Dann muss ich eben zuhause bleiben. Das geht nicht anders.“
Als ich in unserer Unterkunft ankam, waren meine Kollegen noch auf der Arbeit. Ich machte die Küche sauber und fing an, für uns zu kochen. Ich bereitete für meine Kollegen alles vor. Zuhause angekommen erzählten sie: „Wir hatten heute viel zu tun, nachdem du früher gegangen warst. Wir haben doch gemerkt, dass uns einer gefehlt hat.“ Aber auf der anderen Seite waren sie richtig froh, dass alles gekocht und zubereitet war. Darüber haben sie sich richtig gefreut.
Am Sonntag-Abend hörte ich sie diskutieren. Einer sagte: „Raja ist krank zurzeit. Da bin ich am Samstag Morgen früher aufgestanden und habe den Tee gemacht. Und am Sonntag habe ich es auch getan. Ich mache das nicht jeden Tag. Wir müssen das absprechen, wer morgen früh aufsteht und Tee macht.“
Ich hörte ihre ganze Diskussion und da wurde mir klar: „Das letzten Monate stehe ich eine halbe Stunde eher auf. Und jeden Tag mache ich den Tee, säubere die Tassen und packe sie in den Rucksack. Da hat nie einer darüber gesprochen, dass man sich damit auch abwechseln könnte.“ In meinen Gedanken war ich schon etwas enttäuscht. „Jetzt, wo sie es selber machen müssen, fangen sie an, über solche Kleinigkeiten zu diskutieren. Wenn sie sich jetzt schon so anstellen, was ist dann erst, wenn es um eine größere Sache geht. Was machen sie dann?“
Die folgende Tage hatte ich für sie gekocht, wenn sie von der Arbeit kamen. Auch die Wäsche habe ich ihnen gewaschen und die Unterkunft aufgeräumt und gesäubert. Teilweise wurden sie jetzt sogar wählerisch. Einer sagte zu mir: „Du hast letztes Mal Linsen gemacht. Die schmeckten nicht so gut. Aber das Gemüse, das du heute gemacht hast, das schmeckte besser.“ Ich schaute ihn herausfordernd an: „Ihr könnt froh sein, dass ich das alles hier mache. Sonst müsstet ihr die Hausarbeit hier selber tun. Ihr seid undankbar.“
Am Donnerstag Abend saßen wir gemütlich beieinander. Da wurde ihnen klar, dass ich bis Freitag krank geschrieben bin und auch am Montag wieder auf die Arbeit gehen werde. Jetzt begannen sie anders zu reden. „Es ist doch nicht schlimm, wenn es deinem Rücken nicht besser geht. Dann kannst du doch noch ein paar Tage zuhause bleiben.“ Ich war erstaunt. Auf einmal sprechen sie eine ganz andere Sprache.
Wir hatten alle ein paar Biere getrunken und wurden gesprächiger. Da meldete sich Bitu. Er war jünger als ich und hatte mir schon manches erzählt: „Das ist ja klasse, dass du zuhause bist. Darüber haben wir uns alle gefreut. Wir brauchen nicht zu kochen. Die Wäsche ist schon gewaschen. Das war ein schönes Gefühl. Wenn wir nach Hause kommen, können wir gleich duschen und uns an den Tisch setzen. Das Essen ist ja fertig. Im Winter gehen wir dann einfach ins Bett und hören Musik. So ein einfaches Leben haben wir noch nie gehabt.“
Ich wurde immer ärgerlicher. Ein anderer wollte mich beschwichtigen: „Hör nicht auf den. Der Bitu ist sowieso verrückt. Der labert nur Müll. So meinten wir das ja gar nicht. Aber, wenn du morgen zum Arzt gehst, kannst du doch wirklich noch ein paar Tage zuhause bleiben.“ Ich war so verärgert, weil sie so hinterhältig waren. Sie wollten nur, dass ich nicht zur Arbeit gehe, damit sie es einfacher haben. Und außerdem wollten sie mehr Überstunden haben als ich.
Freitag Abend kamen sie wieder zurück. Ich war noch zuhause und wartete auf sie. Aber beim Arzt war ich nicht. Mir ging es schon etwas besser. Sie hätten es gerne erfahren. Aber sie trauten sich nicht, mich danach zu fragen. Nur indirekt versuchten sie herauszufinden, was ich getan hatte. Am Sonntag Abend offenbarte ich ihnen: „Morgen ist Montag. Ich war nicht beim Arzt, habe auch keinen Krankenschein genommen und morgen gehe ich wieder zur Arbeit.“
Da brach es aus Bitu hervor: „Ja, wenn der morgen wieder zur Arbeit geht, dann muss ich ja gar nicht mehr so früh aufstehen wegen dem Tee. Jetzt ist der ja wieder gesund. Da kann er auch etwas früher aufstehen.“ Ich war enttäuscht über ihn und ärgerte mich.
Am nächsten Morgen war es wieder das Gleiche wie früher. Sie schliefen alle. Ich stand auf, machte die Tasche sauber und wie immer bereitete ich den Tee vor. Es hatte auch keiner die Kanne gesäubert. Es war alles wie immer. Teilweise weckte ich sie sogar, damit sie pünktlich auf die Arbeit kamen. Aber mir gefiel das nicht mehr. „Die nutzen mich aus! Und sie nehmen mich nicht ernst.“ So empfand ich jetzt.
Da schmiedete ich einen Plan: „Eines Tages stehe ich morgens so leise auf, dass es keiner bemerkt. Ganz leise mache ich den Tee und verschwinde. Wer bin ich denn, dass ich sie auch noch wecken soll und ihnen morgens helfen? Wenn sie einige Male zu spät zur Arbeit kommen, dann wissen sie schon Bescheid.“
So genau habe ich es gemacht. Am nächsten Tag stand ich ganz ganz leise auf und schaltete kein Licht an. Unten machte ich leise den Tee und meine Tasche fertig. Ganz leise ging ich auf Toilette. Dann nahm ich meine Tasche und schlich mich raus. Ich wollte ihnen eine Lektion erteilen.
Als ich auf die Straße trat, war ich fassungslos. Was sehe ich? Sie waren schon fertig und standen draußen auf der Straße. Ich habe mich wohl selbst hereingelegt. Sie haben das immer nur vorgetäuscht, dass sie es nicht schaffen, morgens aufzustehen. Damit haben sie mich hereingelegt. Und sie wussten, dass sie mich damit ärgern konnten. Das machte mich dann richtig zornig, sodass ich ganz ruhig wurde und nur noch schwieg. Den ganzen Tag versuchten sie dann wieder gut Wetter zu machen, damit ich wieder mit ihnen lachte. Aber ich war nur zornig und verärgert.
Es war Dezember und wir hatten viel zu tun und machten viele Überstunden wie immer. Mein Zorn hatte nachgelassen und war abgeebbt. Zufällig sprach ich mit einem vom Betriebsrat. Der erklärte mir: „Wir bekommen jetzt Weihnachtsgeld. Das lohnt sich in diesem Jahr. Das Weihnachtsgeld bemisst sich nämlich immer nach dem Durchschnittsverdienst der letzten sechs Monate.“
Ganz gespannt fing ich an zu rechnen. Wir bekamen das Weihnachtsgeld ja nicht nur auf die normalen Arbeitsstunden, sondern auch für die Überstunden. Das alles zählte zum Durchschnitt. Und da haben wir sehr viele Stunden in den letzten sechs Monaten gemacht. Deshalb war ich gespannt und freute mich, dass ich richtig Geld bekommen würde.
Ich dachte, wenn es so richtig ist, wie er mir erzählt hat, dann bekäme ich auf jeden Fall 150.000,- Rupien. „Das bekommt noch nicht einmal der Präsident von Indien im Monat, was ich bekomme.“ Als ich das den anderen erzählte, haben sie von Herzen gelacht und sich richtig gefreut.
In der Vorweihnachtszeit waren die Deutschen alle beschäftigt. Sie wollten keine Überstunden machen. Statt dessen machten sie ihre Häuser schön. Alles wurde gesäubert und geschmückt. In den Geschäften war sehr viel los. Die Leute waren ständig unterwegs und hatten viele Pakete in der Hand. Wir liefen auf dem Heimweg immer an einer Kirche vorbei. Und diese Kirche sah sehr sehr schön aus. Überall war sie beleuchtet. Schon lange habe ich nicht mehr so ein schönes Gotteshaus gesehen. So, wie die Kirche geschmückt war, bekam ich richtig Lust, hineinzugehen und dort zu beten.
Morgens fingen wir wie immer um 6 Uhr an. Aber jetzt war die Atmosphäre viel schöner. Bis zum 23. Dezember ging das so und wir haben immer weiter normal durchgearbeitet. Am 24. Dezember arbeiteten wir bis um 2 Uhr. Dann wunderte ich mich, warum auf einmal alle so früh weg sind. Die meisten waren sogar schon um 12 Uhr gegangen. Mich erstaunte das. Ich traute mich auch nicht, sie zu fragen. Heute sprachen sie alle mit uns und jeder sagte:: „Frohe Weihnachten! Alles Gute für die Feiertage.“ Ich antwortete dann „Dankeschön“ und auch „Happy Christmas“. Die ganze Firma sah ziemlich ruhig aus. Im ganzen Komplex, in dem wir arbeiteten, befanden sich nur noch wenig Leute.
Am nächsten Morgen standen wir wie immer morgens in aller Frühe auf, machten uns fertig und sind ab auf die Arbeit. Ich fragte meine Kollegen: „Warum ist es heute so ruhig? Es ist gar keiner auf der Straße. So ruhig haben wir diese Stadt noch nie gesehen. Ist etwas passiert? Niemand hat uns gesagt, dass wir eine Ausgangssperre haben.“ Es sah aus wie eine Ausgangssperre in Indien. Ab und zu fährt ein Auto oder ein großer LKW. Aber sonst passierte nichts. Die Außenbeleuchtung war noch da. Aber die Häuser waren innen alle dunkel. Sonst machten die Leute sich am Morgen für die Arbeit fertig. Aber heute gab es da kein Licht. Das alles wunderte mich.
Als wir an die Firma kamen, war der Eingang zu. Es standen keine Autos auf dem Parkplatz – nichts! Wir wollten rein, aber das Tor war zu. Der Pförtner machte eine kleine Klappe auf, schaute hindurch und fragte uns, was wir hier wollten. Ich zeigte ihm meinen Schlüssel. „Ich habe einen Schlüssel. Wir wollen arbeiten.“ Aber er entgegnete: „Es gibt nichts. Es kann keiner rein kommen.“ Ich hielt dagegen: „Nein, der Meister hat mir dem Schlüssel gegeben und mir erklärt, dass ich jederzeit reinkommen darf und arbeiten und dann wieder nach Hause gehen.“ „Nein!“, sagte der Pförtner. „Warte einen Moment.“
Dann machte der Pförtner seine Klappe zu, während wir draußen standen und warteten. Er ging zu seinem Telefon und schaute auf eine Liste an der Wand. Immer wieder versuchte er jemanden anzurufen. Es sah aber so aus, als wenn niemand dran ginge. Schließlich erreichte er jemanden und sprach mit ihm. Wir konnten es draußen nicht hören aber sahen, wie er mit seinen Händen auf uns zeigte, wie wir da standen, und über uns redete.“
Am Ende rief er mich herein. Die anderen vier sollten draußen bleiben. Ich betrat das Pförtnerhäuschen und auf der anderen Seite war mein Meister. „Hallo Singh, was ist los? Was macht ihr denn hier? Am Info-Brett steht seit einem Monat, dass die Firma vom 26. Dezember bis zum 2. Januar zu ist.“ Dann wiederholte er: „Firma zu! Keine Arbeit! Nix da! Jetzt nach Hause! Tschüss! Okay, hast du verstanden? Teschüss! Frohe Weihnachten. Geht nach Hause! Zweiter Januar wieder arbeiten.“ Diese Worte sind mir bis heute in Erinnerung. Genau so hatte er gesprochen.
Ich verließ das Pförtnerhäuschen und erklärte meinen Kollegen, dass alles zu ist. Sie waren deshalb schlecht gelaunt. „Was machen wir denn jetzt?“ „Was sollen wir schon machen?“ antwortete ich. „Wir gehen jetzt nach Hause.“
Und das taten wir. Zuhause angekommen zogen wir den Schlafanzug an und gingen wieder ins Bett. Bis mittags um 1 Uhr schliefen wir durch. Wieder aufgewacht fragten wir uns: „Wie machen wir das denn jetzt? Haben wir überhaupt Lebensmittel genug?“ So viel hatten wir nicht mehr. Deshalb suchten wir alles ab und fanden Reis, Milch, Linsen und anderes. Dann gingen wir zur Tankstelle und kauften Toastbrot und sonstige Lebensmittel. Es war überteuert, aber wir hatten keine andere Wahl.
Nach zwei Tagen waren die Geschäfte wieder auf. Wir waren richtig froh darüber. Und dann kauften die Jungs zuerst einige Flaschen Whisky und einige Kisten Bier und alles andere. Es musste jetzt reichen bis über Neujahr.
Ja, diese paar Tage waren schön. Morgens konnten wir ausschlafen. Dann konnten wir schön kochen und essen.
Und endlich kam der 31. Dezember. Da wollten wir alle gemeinsam feiern. Wir hatten ja jetzt ein paar Tage frei gehabt und waren richtig erholt und frisch. Um 6 Uhr fingen wir schon an zu trinken. Um 9 Uhr waren meine Kollegen schon betrunken. Sie spielten Punjabi Musik ganz laut und fingen an zu tanzen. Schließlich gingen sie vor das Haus auf die Wiese, spielten ihre laute Musik und begannen laut zu brüllen. Mit einer Flasche Bier in der Hand unterhielten sie sich mit voller Lautstärke.
Dann kam die Polizei. Ein Nachbar hatte die Polizei gerufen. Die Polizisten sahen sich den Zustand an und begannen zu lachen. Und sie ermahnten uns: „Heute ist Neujahr. Ihr dürft feiern und ihr dürft trinken. Das ist kein Problem. Aber draußen sollt ihr bitte nicht laut sein. Um 12 Uhr könnt ihr raus gehen und laut Musik machen und tanzen. Aber bitte nicht jetzt. Da fühlen die Leute sich gestört. Wir warten hier, bis ihr reingegangen seid.“ Und meine Kameraden gingen wirklich wieder ins Haus., weil sie Respekt vor der Polizei hatten.
Dort tranken sie weiter. Sie waren so besoffen, dass sie um 11 Uhr schon im Bett lagen. Als Mitternacht nahte, sagte einer: „Ich habe gehört, dass an der Kreuzung von der Sparkasse um 12 Uhr viel los ist.“ Neugierig zogen wir uns schnell die Jacken an und liefen dort hin. Da sahen wir mindestens 400 junge Leute auf der Kreuzung. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Sie saßen mitten auf der Straße und verteilten sich überall. Jeder hatte eine Flasche Bier in der Hand. Es gab viele Mädchen und auch Jungs. Sie nahmen sich in den Arm. Einige küssten sich.
Einer von den jungen Männern fiel mir auf. Er hatte einen großen Casettenrecorder auf den Schultern und spielte sehr laute Musik. Zwei machten Breakdance. Die anderen bildeten einen Kreis und schauten zu. Als die Vorführung zu Ende war, klatschten alle laut. Plötzlich sprang einer auf einen hohen Blumenkübel und begann zu zählen: „Zehn, Neuen, Acht, Sieben, Sechs, Fünf, Vier, Drei, Zwei, Eins, …“ Und dann war es 12 Uhr. Sie zündeten Böller an. Die Raketen gingen hoch. Die Kirchenglocken begannen zu läuten.
So merkten wir, dass wir in das neue Jahr gekommen waren. Ich stand neben einer Person. Die gab mir die Hand und nahm mich in den Arm und wünschte mir „Frohes neues Jahr“. Seine Freundin nahm mich auch in den Arm und wünschte mir auch „Frohes neues Jahr“. Das war für die Inder ein gefundenes Fressen. Das war einwandfrei. Da konnten sie jedes schöne Mädchen in den Arm nehmen und ihr „Schönes neues Jahr“ wünschen. So machten sie es mit einer nach der anderen. Sie wollten keine Männer. Das gefiel ihnen ganz gut. Allmählich fiel das den Leuten auf und sie sagten: „Nee, nee, jetzt ist es gut.“
Alle Menschen waren sehr sehr glücklich dort. Manche stellten sich extra zu uns, damit wir uns angenommen fühlten. Auch einige ältere Menschen waren dabei. Sie lachten alle, riefen laut oder sprangen herum. Ich war auch sehr sehr glücklich. Als ich mein Hemd roch, bemerkte ich, dass ich nach Parfüm roch – ein richtig süßes Parfüm. Das hat mir gut gefallen. Als es ruhiger wurde, gingen wir nach Hause. Aber dieser süße Geruch begleitete mich. Ich saß auf meinem Bett und überlegte, was ich für das nächste Jahr alles wünschte. Doch dieser schöne Geruch blieb an meinem Hemd und in meiner Nase. Das gefiel mir gut. Und es dauerte nicht lange, dass ich in mein Bett fiel.
Am nächsten Tag standen wir alle spät auf. Wir hatten ja gestern getrunken. Die Jungs unterhielten sich. „Gestern war es ja sehr sehr schön.“ Einer meinte, so schöne Mädchen hätte er noch nie im Leben gesehen. „Die waren so schön geschminkt und angezogen, … Sie sahen wie Engel aus.“ Ich fragte: „Wo kommen denn so viele Engel her?“
Nach dem Mittagessen wurde es langsam ruhiger. Sie dachten wieder an die Arbeit und begannen, ihre Kleidung und die Schuhe und alles andere für morgen zusammen zu suchen und vorzubereiten.
Wie immer waren wir natürlich im 6 Uhr bei der Firma, um zu arbeiten. Auch die anderen waren sehr freundlich und gingen aufeinander zu und jeder wünschte „Frohes neues Jahr“ .
Das gefiel mir alles gut. Ich war nicht mehr so müde wie in der letzten Zeit. Die sechs Tage, die ich ausruhen konnte, hatten meinem Körper gut getan.
Im Januar wollten wir unserer Gewohnheit folgen, von morgens früh bis spät in den Abend zu arbeiten. Aber es war wenig zu tun. Die Leute machten pünktlich Feierabend. Es fehlten die Aufträge nach dem Weihnachtsgeschäft. Das hatten wir noch nicht begriffen. Wir wollten Überstunden machen und wie gewöhnlich mehr Geld verdienen. Deshalb fragten wir immer wieder den Meister, was wir noch arbeiten könnten.
Wenn die Arbeit vorüber war, gingen wir normalerweise alle gemeinsam nach Hause. Aber dieses Mal fehlten schon mal zwei. Ich wartete draußen etwas und ging dann alleine zurück. Und sie kamen zwei Stunden später und grinsten: „Ja, der Meister hat uns dann doch gesagt, dass wir noch etwas machen müssten.“ Jetzt, wo die Arbeit zurück ging, versuchte sich also einer vor dem anderen zu verstecken, um die wenigen Überstunden mitzunehmen. Das schaute sich der Meister ein paar Mal an. Und eines Tages, als alle anderen schon verschwunden waren und wir noch da standen, lachte er und winkte uns zu sich. „Hallo, ihr Singhs, kommt bitte mit. Alle Singhs mitkommen.“ Dann ging er zur Stempeluhr, nahm unsere Karten raus und klack, klack, klack, klack, klack stempelte er alle Karten. „Wir haben jetzt nicht viel zu tun. Ab heute 2 Uhr Feierabend. Wenn ich eine Überstunde haben, sollt ihr mich nicht danach fragen. Ich sage euch Bescheid, wenn mehr zu arbeiten ist. Und jetzt – keine Überstunden mehr. Alles gut. Und Tschüss! Bis morgen 6 Uhr.“
Es war wie ein Schlag für uns. Was war denn jetzt los? Wir hatten doch schon geplant, dass es so weiter geht mit dem Geldverdienen. Aber es war nichts zu machen. Auf der anderen Seite tat es auch gut, dass wir pünktlich Feierabend machten. Wir konnten etwas raus gehen und auch in Ruhe kochen. Die acht Stunden waren für uns mittlerweile überhaupt keine Arbeit mehr, weil wir vorher so viel gemacht hatten. Da waren wir schon erholt, wenn wir zuhause ankamen.
Dieses Mal hatten wir wegen der Feiertagen unsere Lohnabrechnung nicht bekommen. Wir fragten uns: „Wo ist die Frau Menke? Wir sehen sie gar nicht.“ Sie hatte Urlaub und deshalb hatte sich die Abrechnung verzögert. Endlich am 7. Januar kam Frau Menke. Von Weitem sahen wir schon, dass sie die Abrechnungen in den Händen hielt. Alle Inder schauten sie an. Die Ohren standen steif wie bei einem Schäferhund, der eine Beute sieht. Und Frau Menke merkte auch gleich, dass wir so intensiv nach ihr Ausschau hielten. Deshalb kam sie zuerst zu uns und lächelte.
Wir hatten ja alle den selben Nachnamen. Aber die Vornamen waren verschieden. Die meisten Leute kamen damit durcheinander, aber Frau Menke nie. Dieses Mal gab sie mir die Abrechnungen und sagte: „Du kannst die Abrechnungen verteilen. Geht damit auf die andere Seite.“ Das taten wir. Ich gab den Kollegen ihre Abrechnung.
Dann machte ich meine auf und traute meinen Augen nicht. Ich sah, dass ich im Dezember und teilweise im November insgesamt 428 Überstunden geleistet hatte. Dazu kam das Weihnachtsgeld. 10.200,- Mark hatte ich Brutto. Netto waren das 6.500,- Mark. Das war der Lohn, der alle Rekorde gebrochen hatte, obwohl ich eine Woche krank war. Später erfuhr ich, dass es dafür auch das durchschnittliche Weihnachtsgeld gab. Ich war so was von glücklich und rechnete direkt aus, dass ich jetzt 120.000,- Indische Rupien verdient hatte. So viel Geld habe ich noch nie in meinem Leben verdient.
Ich lief nicht mehr, ich flog, so war mein Gefühl. Dieses Gefühl war so schön, dass es alles übertraf, was ich bisher erlebt hatte. Und ich war meinem Ziel und dem, was ich meiner Mutter versprochen hatte, bedeutend näher. Mit diesem Lohn konnte ich mein Ziel schon deutlich sehen. Es rückte in die Nähe, dass ich in Indien Land kaufen konnte und ein Haus für meine Mutter.
Die Weisheit der alten Menschen in meiner Heimat Indien klang in meinem Ohr: „Mit harter ehrlicher Arbeit und mit einem klaren Ziel vor Augen wird man gewiss die Früchte seiner Mühen ernten.“
Mit dieser Geschichte möchte ich euch eine Botschaft vermitteln. Wenn man mit ehrlichen Methoden und mit harter Arbeit ein Ziel anstrebt, dann wird man es erreichen. Und der Erfolg wird echte Befriedigung geben für das Herz und für den Verstand. Die Moral ist dabei wichtig und auch die Ehrlichkeit. Und das kann jeder. Ich kann jedem empfehlen, in diesem Land ehrlich zu arbeiten und hart zu arbeiten. Dann wird er auf jeden Fall sein Ziel erreichen.
Euer Freund Raja