Der Abschied

Und wieder klingelte das Telefon. Es war mein Freund Iqbal. „Was ist passiert, während ich weg bin?“, fragte er. So hatten wir es vereinbart. Er arbeitete jetzt nämlich in Saarbrücken, was für ihn als Asylbewerber eigentlich verboten war. Dem Gesetz nach müsste er in Siegen bleiben, weil er nur hier Aufenthaltsrecht genoss. Aber er war unterwegs – wie viele andere in seiner Lage auch. Ich hielt für ihn die Stellung und beruhigte ihn: „Hör auf, wenn einer nach dir fragt oder für dich Post kommt, kümmere ich mich darum. Du musst nur immer wieder anrufen. Ich sage dir Bescheid.“

Eines Tages gegen 11 Uhr klingelte es draußen. Ich ging nach vorne. Dort stand eine Postbeamtin. Sie hielt mir einen Brief entgegen und fragte mich, wo der Raschid Iqbal wäre. Ich gab Auskunft: „Iqbal ist gerade raus gegangen. Ich bin sein Freund. Er wohnt im Zimmer neben mir.“ Sie möge mir den Brief aushändigen. Aber sie lehnte ab: „Nein, das ist ein persönliches Schreiben für Iqbal. Ich händige ihn nur an ihn aus.“ Ich sagte: „Kein Problem. Hier ist mein Ausweis. Sehen Sie, hier steht mein Name und mein Geburtsdatum. Das können Sie alles aufschreiben. Sie können natürlich auch morgen wieder kommen und übermorgen wieder kommen. Die Leute hier sind immer unterwegs. Die Frau musterte mich und vertraute mir. Dann nahm sein meinen Ausweis, notierte die Ausweisnummer und alle sonstigen Daten und händigte mir den Brief aus.

Ich untersuchte den Brief. Er war gelb. Und damit hatte ich so meine Erfahrungen. Briefe dieser Farbe werden immer unangenehm. Gelbe Briefe sind von der Verwaltung. Sie bedeuten irgend etwas Schlimmes. Meistens kommen sie vom Gericht. Sie haben ein großes Fenster und schwarze Schrift darauf.

Es war Freitag. Ich ging mit dem Brief in meinen Raum und legte ihn auf den Tisch und traute mich nicht, ihn zu öffnen. Ich sagte mir, dass Iqbal doch immer am Wochenende anrief und dachte: „Ich frage ihn erst, was ich tun soll. Dann öffne ich den Brief und kann ihn ihm erklären.“

Am Samstag wurden meine Kollegen auch nervös und bedrängten mich: „Mach doch mal auf! Du hast doch gesagt, dass du jeden Brief aufmachst. Und du öffnest doch auch die anderen Briefe.“ Ich meinte: „Ja, gut.“ Und ich nahm meinen Mut zusammen und machte ihn auf. Wie ich vermutete, besagte der Brief, dass sein Asylantrag abgelehnt worden war. Ich hatte das schon bei anderen so übersetzt mit meinem Englisch-Deutschen Wörterbuch. Er hatte 14 Tage Zeit, um Widerspruch einzulegen. Was sollte ich tun?

Am nächsten Tag war Sonntag. Mir fiel die Familie Schumacher ein. Sie waren vom CVJM und hatten uns schon mal geholfen. Aber am Sonntag wollte ich sie nicht nerven. Dann dachte ich an einen älteren Mann. Der machte Musik im Gottesdienst. Und um 11 Uhr, wenn der Gottesdienst aus war, lief er immer am Asylheim vorbei. Er war sehr freundlich. Immer lächelte er. Ich habe nie gesehen, dass er mich böse anschaute, und dachte: „Ich stelle mich jetzt draußen an die Straße. Wenn er vorbeiläuft, frage ich ihn.“

Und so geschah es. 11.30 Uhr kam er. Er kam von seiner Musik und hatte eine schwarze Mütze und einen langen Mantel an. Als er vorbeiging, sagte ich ihm „Guten Tag!“. Er hatte schon bemerkt, dass ich etwas von ihm wollte, und blieb stehen. Ich gab ihm den Brief in die Hand und fragte ihn, was in dem Brief stand. Er holte seine Brille heraus, eine runde Brille mit einem goldenen Rand. Daran erinnere ich mich noch genau. Er nahm den Brief, dann las er in Ruhe die erste Seite und las die zweite Seite und verweilte am Ende des Briefes, wo die Frist stand. Dann fragte er mich: „Wer ist das?“ Ich antwortete: „Das ist ein Kollege von mir, der gerade nicht da ist. Er ruft an und ich muss ihn informieren.“ „Sein Asylantrag ist abgelehnt. Schade, er hat 14 Tage, um Widerspruch einzulegen. Aber ich bin kein Anwalt. Besser ist, ihr nehmt euch einen Anwalt und geht zu ihm.“ Ich bedankte mich und wollte weg gehen. Da legte er seine Hand zweimal auf meine Brust und dann auf meinen Kopf. Es sah so aus, als spräche er ein Gebet für Iqbal. Ich verstand das nicht genau.

So ging ich zurück. Leider hatte ich keine Telefonnummer von Iqbal und musste immer auf einen Anruf von ihm warten. Montag ging vorbei. Dienstag ging vorbei. Es wurde Abend. Da rief mich einer von den Indern. „Hallo, komm raus! Der Iqbal ist am Telefon.“ Das Telefon hing im Flur unseres Asylheimes. Ich lief dort hin und nahm den Hörer in die Hand. Iqbal war am anderen Ende der Leitung. Ich erzählte ihm von dem Brief und, dass ich ihn von dem Mann von der Kirche hätte lesen lassen. Was ich übersetzt hatte, musste also stimmen. Iqbal sollte bitter herüber kommen. Ich hörte nichts und fragte: „Iqbal, bist du überhaupt dran?“ Und dann antwortete er: „Ja, ich komme morgen.“ Und er legte auf und fragte nichts weiter. Ich gespürte, wie er richtig Angst bekam.

Am nächsten Tag gegen 11 Uhr traf Iqbal schon im Heim ein. Er schaute den Brief immer wieder an. Ob er ihn lesen konnte und verstand, konnte ich nicht entdecken. Dann rief er einen Kollegen in Köln an. Der rief einen Anwalt an. Und der machte klar, dass es nur einen Sinn hat, Widerspruch einzulegen, wenn er Beweise herbei bringen könnte, dass er verfolgt worden wäre. Aber Iqbal konnte in den restlichen zehn Tagen unmöglich etwas beschaffen aus Bangladesch. Er hatte große Angst.

Die ganze Zeit überlegte er, was er machen könnte. „Vielleicht fahren wir doch zu dem Anwalt. Ich glaube meinem Freund nicht, dass er alles richtig verstanden hat.“ Und er bat mich, mit zu kommen. „Ja klar, ich begleite dich. Ich habe auch Zeit. Das ist kein Thema.“, versicherte ich ihm.

Am nächsten Tag standen wir um 6 Uhr früh auf, nahmen den Bus nach Siegen und um 7:35 Uhr den Zug nach Köln. Gegen 10 Uhr waren wir beim Anwalt in seinem Büro in Köln. Vor uns saßen da einige Bangladeschis und Inder und redeten miteinander. Als wir dran kamen, war es 12.30 Uhr. Ich ging mit Iqbal hinein zum Gespräch. Der Anwalt hat es uns gut erklärt: „Einen Widerspruch einzulegen ist sehr schwer. Iqbal ist schon mal nach Bangladesch abgeschoben worden. Deshalb ist es sehr schwer. Jetzt haben wir schon einen Folgeantrag gestellt. Und deswegen ist es noch komplizierter. Ich kann es versuchen. Aber damit können wir nur etwas Zeit gewinnen. Mehr kann ich nicht für euch tun. Iqbal muss neue Beweise aus Bangladesch herbeischaffen, dass er dort verfolgt wird. Von der 14-Tage-Frist ist schon die Hälfte vorbei. Ich brauche unbedingt Beweise, stichfeste Beweise.“

Wir verabschiedeten uns von ihm und sagten: „Wir werden es versuchen und kommen vielleicht übermorgen wieder. Wir sprechen mit seinen Eltern und sehen, ob es möglich ist.“ Der Anwalt bot an, schon einmal einen Antrag zu stellen. „Und ihr könnt in den nächsten Tage die Beweise nachreichen.“ Ich riet Iqbal, den Antrag zu stellen. „Dann hast du eine gewisse Sicherheit. Wenn du unterwegs bist, kannst du das zeigen. Dann läuft wenigstens etwas, um dich hier zu behalten. Und du wirst nicht festgehalten.“ Der Anwalt meinte: „Okay, so machen wir das.“ Dann schickte er uns zu seiner Sekretärin. Die meinte, wir sollten 300 Mark dafür geben. Sie drückte uns dafür die Quittung in die Hand.

Damit zogen wir von dannen und kamen schließlich am Kölner Hauptbahnhof an. Es war schon halb drei und wir hatten immer noch nichts gegessen. Wir hatten beide Hunger. Aber Hunger war nicht unser Problem. Das Problem war Iqbal. Die ganze Zeit hatte ich mich nicht getraut, etwas zu sagen. Er hängt in der Krise und ich habe Hunger. Das kann ich ihm doch nicht sagen. Und er hatte auch nichts von Hunger erwähnt. Der Zug kam. Wir waren pünktlich am Bahnsteig und es dauerte eineinhalb Stunde, bis wir in Siegen ankamen. Während der ganzen Fahrt schaute Iqbal aus dem Fenster. Manchmal schaute er so, dass die Zeit für ihn stehen blieb. Er schaute sich draußen nichts an, er schaute durch die Dinge hindurch. Das war mein Eindruck. Endlich kamen wir in Siegen an. Wir haben während dieser eineinhalbstündigen Fahrt und dann auch während der Busfahrt noch nicht mal zehn Sätze gesprochen. So eine unheimliche Stille herrschte die ganze Zeit. Als wir im Asylheim ankamen, ging er durch den Flur hindurch und verschwand direkt in seinem Zimmer. Ich wollte ihm nicht hinterher laufen und ihm Ruhe lassen. Ich wollte nicht aufdringlich sein. So wartete ich, ob er nicht aus seinem Raum wieder heraus käme. Er sollte die Zeit haben, in sich zu gehen, damit er sich mit der Lage befassen und entscheiden konnte, was er tun wollte.

Eine Stunde später – der Abend war schon fortgeschritten – hörte ich ihn laut in bengalischer Sprache reden. Ich ging vorbei und bemerkte, dass die andere Stimme einer Frau gehörte. Wenig später sah ich ihn nicht mehr. Dann wartete ich, dass er vielleicht in mein Zimmer käme. Aber er kam nicht. Nach einer Stunde schlich ich mich vorsichtig zu seiner Zimmertür. Unsere Zimmer waren so konstruiert, dass sie Holzwände hatten und oben kein Dach. Deshalb konnte man alles hören, wenn sich jemand im Nachbarzimmer unterhielt. Oder, wenn einer nachts schnarchte, bekamen das alle mit. Deshalb schlich ich mich leise an seine Tür. Und ich bemerkte, dass er laut heulte und tief seufzte. Ich hatte den Eindruck, dass er mit sich selber redete. Es war nämlich außer ihm niemand in dem Raum. Ich traute mich nicht, anzuklopfen und einzutreten.

Deshalb ging ich in die Küche und wollte ihn in Ruhe lassen. Mir fiel ein, dass wir seit heute Morgen nichts gegessen hatten. So aß ich erst einmal etwas und machte dann einen Teller für Iqbal fertig. Damit klopfte ich bei ihm an und er öffnete die Tür. Er stellte den Teller auf einen Tisch und legte sich wieder ins Bett. Ich setzte mich ihm gegenüber. Später fing er an, zu essen. Er aß rein mechanisch alles auf. Ich nahm den Teller mit in die Küche, obwohl er das selber tun wollte. Dann suchte ich ihn wieder in seinem Raum auf. Er fing wieder fürchterlich an zu weinen. „Als du mich angerufen hast wegen dem Brief, habe ich danach meine Mutter angerufen. Und eben habe ich mit ihr noch einmal gesprochen und auch mit meinem Vater. Sie liegt seit gestern im Bett und hat überhaupt keine Kraft mehr, aufzustehen. Seit gestern hat sie nichts gegessen. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Soll ich nach Hause gehen? – Nein,“ sagte Iqbal, „ich gehe nicht nach Hause. Letztes Mal bin ich im Ausländeramt reingefallen. Die Polizei hat mich da gepackt und mich nach Hause geschickt. Aber dieses Mal falle ich darauf nicht herein. Ich bin schon weg, ehe sich mich erwischen können.“

Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Es dauerte eine lange Zeit, bis er ruhiger wurde. Dann sagte ich: „Wir machen das so. Wenn du morgen früh weg willst, gehe ich mit dir zum Bahnhof. Aber jetzt versteckst du dich in einem anderen Raum. Ich habe einen Schlüssel von einem Zimmer dort hinten in der Ecke. Die Polizei war schon mehrmals da, um Leute zu suchen. Und diesen Raum haben sie nie gefunden. Du nimmst jetzt deine Tasche und ziehst dort ein. Morgen früh fahre ich mit dir dann zum Bahnhof. Wenn etwas geschieht, kann ich dir helfen oder den Anwalt anrufen.

Um 6 Uhr war ich am nächsten Morgen wieder wach. Ich konnte nicht richtig schlafen. Als ich in Iqbals Raum kam, war er schon angezogen und hatte seine Tasche fertig gepackt in der Hand. So liefen wir direkt zum Bus und fuhren zum Bahnhof. Wir kauften ein Ticket nach Saarbrücken und begaben uns auf Gleis 4. Daran kann ich mich immer noch genau erinnern. Wir sahen den Zug in der Ferne kommen und er fiel mir um den Hals und begann zu weinen. Und ich hatte auch schon Tränen in den Augen.

Neben uns stand eine Frau. Die schaute uns verstört an und entfernte sich einige Schritte von uns. Es war mit egal, was die anderen Leute dachten. Ich konnte Iqbal nicht helfen. Ich konnte ihm einfach nicht helfen. Wie denn?

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Iqbal stieg ein und saß am Fenster. Ich blieb bei ihm und winkte so lange, bis der Zug aus meinen Augen entschwunden war. Dann lief ich auf dem Bahnsteig hinter ihm her. Mir wurde schwindelig. Der ganze Bahnhof drehte sich und ich setzte mich auf eine Bank. Nachdem ich ein paar Minuten gewartet hatte, ging es mir besser. Mit schwerem Herzen stand ich auf, nahm den Bus und kam in mein Heim zurück.

Die anderen Kollegen schliefen noch. Einer wachte auf und fragte mich: „Wo ist Iqbal?“ Ich wurde ärgerlich. „Ja, gestern habt ihr alle groß geredet, dass ihr mit wollt. Iqbal hätte sich gefreut, wenn mehrere Leute ihn verabschiedet hätten. Ihr habt heute Morgen alle geschlafen. Da habe ich keinen geweckt. So viel Verständnis muss man haben, dass man schon selber aufsteht, wenn man mitkommen will.“ Ich hatte begriffen, dass sie alle nur reden. Sie sind alle Lügner. Wenn man eine Freundschaft haben will, dann muss man auch für einen anderen etwas tun. Das heißt doch Freundschaft. Wenn man nicht bereit ist, etwas für jemanden zu tun, dann darf man keine Freunde suchen.

Wenn man nur die Freundschaft sucht, wenn man etwas von einem anderen haben will, dann ist das doch keine Freundschaft. Es ist wie ein Gebäude ohne Fundament. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass dieses Gebäude zusammen bricht und alle Teile durch die Gegend fliegen. Die Freundschaft kennt keine Grenzen. Sie kennt keinen Glauben und keine Nationalität und keine Kasten.

Wenn man nur auf das Äußere schaut und darauf eine Freundschaft aufbaut, ist das ein großer Betrug und eine Lüge. Wichtig ist das Innere. Wenn ich mit jemandem Freundschaft habe, ist die Menschlichkeit wichtig. So war es zwischen mir und Iqbal. Die Menschlichkeit zu bewahren, das ist die große Religion der Welt. Auf diese Basis muss die ganze Welt aufgebaut werden. Wenn wir darauf aufbauen, dass wir uns verstehen, dann kann nichts an unserer Freundschaft rütteln. Dann bewahren wir den Halt.

2 Gedanken zu „Der Abschied“

  1. Iqbal ist in Deutschland erwischt worden und wurde dann abgeschoben. Einge Monate später kam er wieder nach Deutschland und reiste dann weiter nach Frankreich. Danach habe ich den Kontakt zu ihm verloren.

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