Frei wie eine Taube

Wenn ich an meine Jugend zurück denke, fällt mir zuallererst die Zeit ein, die ich auf meinem Fahrrad verbracht habe. Fast täglich brauchte ich mein Fahrrad für kurze und auch lange Strecken und brachte damit während meiner Jugend tausende Kilometer in Punjab in Indien zurück. Ich erinnere mich noch gut, wie mir im Sommer die warme Luft Erfrischung verschaffte und mich von der sommerlichen Hitze, die zeitweise erdrückend war, ablenkte.

Als Kind war ich immer fasziniert von Tauben. Sie waren überall, hatten die Freiheit, einfach allem zu entfliehen, und flogen frei und schwerelos durch die Luft. In vielen Situationen habe ich mir in meiner Kindheit und später in meiner Jugend gewünscht, einfach so frei wie eine Taube sein zu können. Ich habe mir gewünscht, dem Alltag zwischen Polizeigewalt, Korruption, Verfolgung, Armut und Perspektivlosigkeit zu entkommen.

Meine Familie in Indien lebte am Existenzminimum und unser Geld reichte grade mal so für uns 6, um uns zu ernähren und eine Schulbildung zu ermöglichen. Mein Wunsch war es, mehr aus meinem Leben zu machen und in einem Land zu leben, in dem ich frei sein kann, ohne weiter an die gesellschaftlichen und sozialen Ketten gebunden zu sein, in die man in einem Entwicklungsland hineingeboren wird.

Auch wenn Indien eine sogenannte Demokratie auf dem Papier ist, ist es noch weit davon entfernt, in der Realität den Ansprüchen eines demokratischen und sozialen Staats gerecht zu werden. Für einen Menschen wie mich würde es in diesem Land schwer sein, Erfolg zu haben; denn das eigene Schicksal entscheidet sich schon mit der Geburt.

Mit 20 Jahren hatte ich das Gefühl, auf einem Fahrrad zu sitzen und nicht voranzukommen. Ich trampelte und trampelte in die Pedale, aber ich kam keinen Meter voran. So nahm ich all meinen Mut zusammen und traf eine Entscheidung, die den Rest meines Lebens bestimmen würde. Ich fasste den Beschluss, mein Heimatland und somit auch meine Familie und alles, was ich bis dahin kannte, zu verlassen. Von da an suchte ich nach Möglichkeiten, nach Amerika oder Kanada auszuwandern – jedoch vergebens. Ein glücklicher Zufall und einige Jahre später hatte ich es geschafft, ein touristisches Visum für Deutschland ausgestellt zu bekommen. Ich wusste nichts über Deutschland und konnte auch kein Deutsch sprechen. Doch etwas in mir sagte mir, dass ich dort hinfliegen sollte. Genau so wie Tauben keine Landkarte brauchen, um zu wissen, wo sie hinfliegen müssen, wusste ich, dass ich nach Deutschland gehöre.

Nachdem ich mühselig das Geld für mein Flugticket zusammenbekommen hatte, ging meine Reise ins Unbekannte los. Mit 50 Dollar in der Tasche und nur dem Nötigsten an Hab und Gut erreichte ich Deutschland und begann, hier ein ganz neues Leben mit vielen Höhen und umso mehr Tiefen.

Als Ausländer in Deutschland zu leben, ist nicht einfach. Rassismus, Abweisungen und Ungerechtigkeiten waren mein Alltag, aber ich habe die ersten Jahre hier in Deutschland niemals aufgegeben und auch, wenn ich immer wieder Rückschläge erleiden musste, wusste ich, dass es all die Mühen und all die Ungerechtigkeiten am Ende wert sein wird.

Ich habe jahrelang in einem Asylheim gelebt, mir mit 4 anderen Geflüchteten ein kleines Zimmer geteilt, habe später Geschirr in Restaurants gewaschen, als Erntehelfer Gurken und Erdbeeren geerntet und durfte später sogar in Firmen am Fließband arbeiten. Ich habe niemals aufgegeben und immer weiter gemacht. Ich habe immer weiter in die Pedale getreten, um voranzukommen. Disziplin und Beharrlichkeit waren wichtige Werte für mich und ich war mir niemals zu schade, hart zu arbeiten.

Heute kann ich von mir sagen, dass ich mein Ziel erreicht habe und mich frei wie eine Taube fühle und in einem Land lebe, das ich stolz meine Heimat nennen darf. Mittlerweile arbeite ich als selbstständiger Veranstalter und verdiene damit nicht nur mein Geld, sondern kann auch als Arbeitgeber anderen Menschen eine Perspektive geben.

Hier habe ich nicht nur meine Heimat, sondern auch meine Familie. Meine wunderbare Frau hat mir 4 Kinder geschenkt, die allesamt auf dem Weg sind, gute, gebildete und aufrichtige Menschen zu werden. Bei allem, was ich tue, ist mein oberstes Ziel, meinen Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen und Ihnen alle Perspektiven und Möglichkeiten dieser Welt zur Verfügung zu stellen, weil ich diese Perspektiven als Kind nicht hatte. Auch sie sollen mutig voranschreiten und dabei immer demütig bleiben.

Wenn ich Ihnen nur eins auf den Weg geben kann, dann ist es: „Hört niemals auf, in die Pedale zu treten. Mit harter Arbeit, Ehrlichkeit und Willenskraft schafft ihr es immer an euer Ziel.“

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